Geschichte des Scheiterns

Eine neue Ausstellung in Frankfurt (Oder) blickt auf die Massendeportation polnischer Juden Ende Oktober 1938

Nur fünf Mark durfte ich mitnehmen und eine Aktentasche. Aber ich wusste nicht recht, was ich in ihr unterbringen sollte. Ich steckte in der Eile nur ein Reservetaschentuch ein und vor allem etwas zu lesen«, sollte Marcel Reich-Ranicki einmal über das schreiben, was sich als »Polenaktion« ins Gedächtnis der Betroffenen gebrannt hat. Am 28. Oktober 1938 treiben die Nationalsozialisten den »Literaturpapst« der späteren Bundesrepublik aus seiner Wahlheimat Berlin in Richtung Osten. Dieses Schicksal teilt der damals 18-Jährige mit rund 17 000 polnischen Juden. Es ist die erste Massendeportation von Juden aus Nazideutschland.

Genau 84 Jahre später ist es Jobst-Hinrich Ubbelohde, der die Worte Reich-Ranickis im Logensaal der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) zitiert. »Die Angst, die Trauer, die Verzweiflung und das nachfolgende Elend der Deportation, bei der die Betroffenen Hab und Gut sowie viele auch für immer Familie und Heimat verloren, lässt sich nur erahnen«, kommentiert der brandenburgische Landesbeauftragte für die Beziehungen zum Nachbarland Polen.

In den vergangenen Jahren, sagt Ubbelohde, sei die Geschichte der »Polenaktion« zunehmend in den Hintergrund getreten. Umso wichtiger sei es nun, dass sich eine neue Ausstellung im Bundesland mit dem Thema auseinandersetzt: Bis Ende November ist »Ausgewiesen! Die Geschichte der Polenaktion 1938« in der Frankfurter St. Marienkirche zu sehen. Im Zentrum steht das Schicksal sechs jüdischer Familien sowie eines Frankfurter Bürgers, der 1938 den Zug nach Polen in der Oderstadt besteigen musste.

Für die Kuratorin Alina Bothe ist es nicht das erste Mal, dass unter ihrer Betreuung eine Ausstellung zur »Polenaktion« entsteht. Der Osteuropa-Historikerin von der Freien Universität Berlin war es bereits 2018 gelungen, zusammen mit Studierenden ein entsprechendes Projekt auf den Weg zu bringen. Ausgestellt wurde im Berliner Centrum Judaicum und in Warschau.

An die damalige Arbeit knüpft Bothe nun in Frankfurt (Oder) an. Dass es sich um eine Fortsetzung handelt, macht die Aufgabe aber nicht leichter, sagt sie: »Die Tücke liegt im Detail.« Bis zuletzt habe man fleißig recherchiert, an Formulierungen gebastelt, wichtige Informationen ergänzt. Lediglich eine der sechs Familiengeschichten war schon in Berlin zu sehen. Hinzu kommen neue Kontexttafeln mit kleinen Episoden rund um den 28. Oktober.

Neu ist auch der Blick auf die Oderstadt und deren Rolle bei den Deportationen gut zwei Wochen vor den deutschlandweiten antisemitischen Pogromen vom 9. November 1938. »Frankfurt war nicht irgendeine Stadt, sondern die zweite Hauptstadt in Brandenburg«, sagt Konrad Tschäpe von der Europa-Universität Viadrina, der sich für die Ausstellung mit der Regionalgeschichte auseinandergesetzt hat. Als Kulturwissenschaftler habe er in seiner Arbeit versucht, über den Tellerrand zu schauen, in Bereiche vorzudringen, die Historikern meist verschlossen bleiben.

»Auch Gebiete, die östlich von Oder und Neiße lagen, gehörten früher zum Regierungsbezirk Frankfurt (Oder)«, führt Tschäpe aus. »Er war in etwa so groß wie zwei Drittel des heutigen Landes Brandenburg.« Was im Zusammenhang mit der »Polenaktion« geschah, sei auch von der heutigen Grenzstadt aus angeleitet worden. Bis heute ließen sich in Stadt und Umgebung architektonische Zeugnisse finden, an denen man die damals vorherrschende »antipolnische Stoßrichtung« ablesen könne.

»Frankfurt als Drehscheibe für die Menschenmassen, das hat eine Vorgeschichte«, sagt Tschäpe. »Es gab schon eine Infrastruktur, die für Zwangsarbeiter, Deportationen der jüdischen Bevölkerung genutzt wurde.« Dafür habe nicht zuletzt ein riesiges Kasernenareal beigetragen, in dem nach Ende des Ersten Weltkrieges die Reichsbahndirektion Osten untergebracht worden war. Es ist ein Teil der Frankfurter Geschichte, in dem Tschäpe noch einiges zu entdecken hofft: »Bisher gibt es das in der Museumslandschaft in Frankfurt noch nicht.«

Zum weitläufigen Frankfurter Regierungsbezirk zählte 1938 auch die kleine Gemeinde Neu Bentschen, rund 100 Kilometer von der Oderstadt entfernt, unmittelbar an der damaligen Grenze zu Polen und dem Städtchen Zbąszyń, das während der »Polenaktion« traurige Bedeutung erlangte. Hier strandeten 8000 deportierte Jüdinnen und Juden, denen Polen die Einreise verwehren wollte. Bis zu zehn Monate verbrachten die Menschen hier in improvisierten Notunterkünften.

»Die ›Polenaktion‹ ist auch eine Geschichte des Scheiterns«, sagt Bothe. Das zeige der am Anfang der Deportationen stehende Polizeibescheid. Mit diesem seien Betroffene dazu aufgefordert worden, das Land innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. In Wirklichkeit aber habe man die Menschen ohne Vorlauf aus ihren Wohnungen und Häusern geholt. »Der Bescheid widerspricht den tatsächlichen Handlungen«, führt Bothe aus. »In dem Moment, in dem der Bescheid erstellt wurde, ist man noch von einem anderen Prozedere ausgegangen.«

Ebenso wenig geplant hatten die Nazis, dass das Nachbarland die Grenze dicht machen würde. Bereits bevor das Deutsche Reich die Deportationen durchführte, hatte sich die polnische Regierung vor massenhaften Fluchtbewegungen von Jüdinnen und Juden aus dem im März annektierten Österreich gefürchtet. Das polnische Parlament verabschiedete deshalb ein neues Gesetz, das es ermöglichte, Polinnen und Polen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, die seit mehr als fünf Jahren im Ausland lebten.

Zuletzt blieben Juden nur wenige Tage Zeit, um ihre polnische Staatsbürgerschaft durch einen Sichtvermerk bis zum 30. Oktober 1938 zu behalten. Trotz Sonderzügen gelang es den Nazis nicht, alle Menschen rechtzeitig über die Grenze zu bringen. Wer übrig blieb, wurde nach Zbąszyń gebracht. »Es gibt diesen Ort, der sichtbar bleibt, für das, was passiert ist«, sagt Bothe über die Stadt und erzählt, wie die Deportierten gerade in den ersten Tagen auf eine unheimliche Hilfsbereitschaft in der dortigen Bevölkerung trafen. »Sie reagierten nicht antisemitisch, sie reagierten solidarisch.« Enorme Ressourcen seien in kürzester Zeit mobilisiert worden, um den Menschen zu helfen. Es seien vor allem die Frauen im Ort gewesen, die sich um die Neuankömmlinge gekümmert, Suppenküchen und Kleiderkammern eingerichtet hätten.

»Es ist nicht einfach, die alte Familiengeschichte zu öffnen und sich zu entscheiden, Fotos und Briefe freizugeben«, sagt Bothe zu den in der Frankfurter St. Marienkirche versammelten Zeugnissen. »Für das Vertrauen, das uns entgegengebracht wurde, will ich Danke sagen.« Mit ihrer Ausstellung möchte die Kuratorin wie schon 2018 auf Wanderschaft gehen – und das, wenn möglich, auch im Nachbarland.

»Ausgewiesen! Die Geschichte der Polenaktion 1938«, St. Marienkirche, Oberkirchplatz 1 in 15230 Frankfurt (Oder). Zu sehen vom 28. Oktober bis 27. November, täglich von 10 bis 16 Uhr.

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