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Was darf sich Kritik erlauben?

Susan Neiman und Michael Wildt analysieren die Debatte über Holocaust und andere Menschheitsverbrechen

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.

Geht es nicht manchmal um des Kaisers Bart, wenn Historiker streiten? Bei der Debatte um »Gewalt und Holocaust« stellt sich die Frage nicht so salopp. In dem von Susan Neiman und Michael Wildt herausgegebenen sehr ernsthaften Diskussionsband geht es vor allem um die deutsche Haltung zur Singularität des Holocaust. In dieser Frage ist ein heftiger Streit im Gange, der teilweise mit hohem polemischem Einsatz ausgetragen wird. 

14 Stimmen haben die beiden Herausgeber zusammengetragen, die selbst nicht stimmlos bleiben. Susan Neiman, 1955 in den USA geboren, war Philosophie-Professorin an der Yale University und in Tel Aviv und ist seit 2000 Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam. Michael Wildt war bis vor Kurzem Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie haben eine brisante Mischung der Meinungen zur Singularitätsthese zusammengestellt, die auch als repräsentativ für die Kontroverse gelten kann.

Historisch stellen sie alle Beiträger dem früheren Historikerstreit von 1987 gegenüber. Seinerzeit ging es um die umstrittene These von Ernst Nolte und anderen, dass der Holocaust die Folge, also die deutsche Reaktion auf die noch schlimmeren stalinistischen Verbrechen in der Sowjetunion gewesen sei. Diese These wurde damals von Jürgen Habermas als Wort- und Meinungsführer zurückgewiesen. Den Holocaust dürfe man nicht mit anderen Verbrechen vergleichen, nicht einmal mit Stalins Mordtaten. Diese Auffassung setzte sich in der Folge durch und entwickelte sich zum bis zum vor Kurzem nicht mehr hinterfragten Bestandteil der bundesdeutschen Staatsraison, ebenso wie das hierzulande von niemandem ernsthaft bestrittene Existenzrecht Israels.

In Deutschland hat die neuere Schuld-Debatte um die Kolonialverbrechen insbesondere im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, und die Diskussion um die aktuelle Politik Israels gegenüber den Palästinensern zu der neuen Kontroverse um die Singularität des Holocaust geführt. Universalisten fragen: Darf man an Israels Politik Kritik üben, oder darf sich Israel »alles erlauben«?

Stellvertretend für die Standpunkte im heutigen Historikerstreit 2.0 zu diesen Fragen seien hier die Beiträge des aus Australien stammenden, in New York lehrenden Historikers A. Dirk Moses und seines 1926 in Prag geborenen Kontrahenten Yehuda Bauer genannt, der lange Zeit Direktor des Zentrums für Holocaust-Forschung der Gedenkstätte Yad Vashem war. 

Moses hat einen das Ergebnis der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung kritischen wertenden »Katechismus« veröffentlicht, den er in seinem Beitrag in diesem Band weiter erklärt. Seine zentrale Beobachtung ist, dass in Deutschland Stimmen, die Israels Regierung und seine militärische Besatzungspolitik kritisieren, mit Medien-Kampagnen verfolgt werden, die wiederum zur Kündigung ihres Berufes durch Arbeitgeber führen. Dies belegt er mit konkreten Beispielen.

Dem widerspricht Bauer vehement: »Glücklicherweise ist die deutsche Gesellschaft nicht einem Katechismus verpflichtet. Die Medien in Deutschland sind offen und kontra (die Behauptung von) Moses, es wird Redefreiheit geübt. So soll es auch weiterhin bleiben.« Eva Menasse sieht dagegen die Redefreiheit ganz und gar nicht gewährleistet und führt Beispiele von falsch verstandenem »Philosemitismus« und falsch zugeschriebenem Antisemitismus an. Andere Beiträge wenden sich mit guten Gründen gegen einen »Schlussstrich« und zollen der offiziellen und von der Mehrheit der Medien geteilten deutschen Haltung Anerkennung und Respekt.

Besonders informativ ist der Dialog zwischen Ingo Schulze und Susan Neiman, in dem der in Dresden geborene Schulze die Behauptung vom »verordneten Antifaschismus« in der DDR aus eigener Erfahrung widerlegt. Auch Mario Keßlers Beitrag zur Kolonialismus-Debatte führt in die DDR und weist auf bedeutende Forschungen an dortigen Hochschulen zur deutschen und allgemeinen Kolonialpolitik hin.

Der Israeli Omer Bartov, Geschichtsprofessor in den USA bringt eine andere Frage auf den (seinen) Punkt: »Als jemand, der Israels Politik gegenüber höchst kritisch eingestellt ist, wünsche ich mir von Deutschland eine schärfere Verurteilung der andauernden Unterdrückung der Palästinenser. Aber ich kann auch verstehen, wie schwierig dies für deutsche Politiker ist und wie leicht es für die eigene Öffentlichkeit wie für internationale Akteure wäre, sie an ihre moralische Verpflichtung gegenüber dem jüdischen Staat zu erinnern.«

Vielleicht sollte die kurze Revue der Meinungen in diesem Streit mit einem Zitat aus der Rede schließen, die Yehuda Bauer 1998 vor dem deutschen Bundestag hielt, in der er sagte – und uns damit heute noch ratlos hinterlässt: »Das Fürchterliche an der Shoa ist eben nicht, dass die Nazis unmenschlich waren, das Fürchterliche ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich.« Darüber können Historiker nicht streiten, das gehört in ein anderes Fach.

Susann Neiman/Michael Wildt (Hg.): Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte. Propyläen, 368 S., br., 26 €.

In einer früheren Fassung dieser Rezension hieß es, A. Dirk Moses habe in dem Buch geschrieben, dass Deutschland einen »Kult des Holocaust« entwickelt habe. Das hat er nicht getan, weshalb wir uns bei ihm und unseren Lesern entschuldigen. 

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