Überschreibung der Bilder

»Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre« zeigt kommentierte Familienaufnahmen der Literaturnobelpreisträgerin – und komplementiert ihre autobiografische Prosa

  • Marit Hofmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Nicht nur ein Familienarchiv, sondern auch »Zeugnis für die Zeit, den Lebensstil und die Bestrebungen einer Gesellschaftsschicht im Jahrzehnt nach 1968« (Annie Ernaux).
Nicht nur ein Familienarchiv, sondern auch »Zeugnis für die Zeit, den Lebensstil und die Bestrebungen einer Gesellschaftsschicht im Jahrzehnt nach 1968« (Annie Ernaux).

Eine Super-8-Kamera war 1972 »das ultimative Wunschobjekt« für Annie Ernaux und ihren Ehemann Philippe. Als »Neuankömmlinge in der Bourgeoisie« – er bekam nach seinem Studium eine hohe Stelle in der Verwaltung der ostfranzösischen Stadt Annecy, sie unterrichtete an der Oberschule – war es ihnen möglich, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Die Bilder, die in den kommenden neun Jahren bis zur Trennung des Paares entstanden, hat hauptsächlich der Ehemann gefilmt. Annie Ernaux überließ ihm, wie sie offenbart, »ohne Widerstand die Rolle« des Filmenden, »aus Angst, etwas an dem damals sehr teuren Equipment kaputtzumachen«. Wenn sie »die Kamera nahm, dann nur, um ihn zu filmen. Er posiert furchtbar!«

Aus heutiger Sicht mag erstaunen, dass die feministische Literatin, die gerade den Nobelpreis gewonnen hat, damals in einer Beziehung mit einer »sehr geschlechtsspezifischen Aufteilung« lebte, obwohl sich beide als Linke verstanden. Doch gerade diesen Widerspruch – ihre private Erfahrung, die viel über das kollektive Rollenverständnis und die politische Beschränktheit der Zeit aussagt – arbeitet sie in ihrer Literatur auf.

Die ersten Aufnahmen, die der Familienvater macht, zeigen Frau und Kinder beim Heimkommen aus Schule und Supermarkt. Sie reagieren ratlos, verharren und lachen verlegen in die Kamera. Annie Ernaux beschreibt die Szene als ein von ihrem Mann konzipiertes »Happening«, das mit der Kamera in ihr Familienleben kam, freudvoll, aber auch von einer Art Gewalt geprägt.

Nach der Trennung hat Philippe Ernaux die Kamera behalten und seiner Exfrau die Filmrollen überlassen. Sohn David Ernaux-Briot wollte die Aufnahmen nun ursprünglich als private Erinnerung für seine Kinder mit Kommentaren der Beteiligten unterlegen, bis seine Mutter und er merkten, dass sie es hier nicht nur mit einem Familienarchiv zu tun hatten, sondern auch mit einem »Zeugnis für die Zeit, den Lebensstil und die Bestrebungen einer Gesellschaftsschicht im Jahrzehnt nach 1968« (Annie Ernaux). 

Erst durch den gewohnt klar ausformulierten Voice-over-Kommentar der Schriftstellerin bekommen die Bilder der gut einstündigen, vom Sohn geschnittenen Super-8-Collage allerdings etwas Fesselndes, ja, der anspruchsvolle Text absorbiert bisweilen die Aufmerksamkeit, zumal in der untertitelten Fassung, in der der deutsche Verleih das französische Original dankenswerterweise ins Kino bringt. Dadurch, dass ihr Kommentar nicht beschreibend hinter die Aufnahmen zurücktritt, sondern sich ihnen gegenüber behauptet, überschreibt Annie Ernaux die Bilder ihres einem Krebsleiden erlegenen Ex-Mannes im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrer Perspektive, entlarvt den männlichen Blick und kleinfamiliäre Zwänge und erobert sich so die Regie zurück.

Ernaux, zu deren Verständnis von Linkssein leider auch gehört, Aufrufe der antisemitischen Israel-Boykott-Bewegung BDS zu unterschreiben, verband mit ihrem Mann der Drang, statt »wie Idioten am Strand« zu liegen, politische Reisen zu unternehmen – nach Albanien oder nach Chile zu Salvador Allende. Die Kamera bekommt dann, jenseits des Festhaltens von Familienfeierstereotypen und Fortschritten der Kinder, eine historische Reportagefunktion und erzählt von den Utopien, von denen ihre Besitzer*innen träumten.

Annie Ernaux’ stets kitteltragende Mutter, die zeitweise bei der Familie wohnte, »repräsentierte die tägliche Präsenz der Welt meiner Herkunft aus der Arbeiterklasse in dem intellektuellen, bürgerlichen Zuhause, das ich mit meinem Mann geschaffen hatte«.

Die Entstehungszeit der Bilder ist noch aus anderen Gründen für Ernaux wichtig: Es war ihr Einstieg ins Schreiben, das sie damals heimlich neben den beruflichen und familiären Pflichten verfolgte und das die Kamera kaum einfängt. Mit ihren ersten Veröffentlichungen ging der »unvermeidliche Prozess des Endes meiner Ehe« einher. In den letzten Aufnahmen sind keine Menschen mehr zu sehen, sondern Impressionen vom Garten.

Was für Ernaux’ Literatur gilt, gilt auch für diesen Film. Die »Ethnologin ihrer selbst« stellt ihr individuelles Erleben in einen kollektiven Zusammenhang und macht es fruchtbar für eine universelle Gesellschaftskritik. Dass die Schriftstellerin dem alten Medium etwas Neues abzugewinnen weiß, erklärt sie ganz kokett so: »Der Vorteil für mich ist, dass es stille Bilder sind, in denen mir niemand widerspricht.«

»Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre«: Frankreich 2022. Regie: Annie Ernaux, David Ernaux-Briot. 61 Minuten. Start: 29.12.

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