Israels Folterknast im Südlibanon

In den Gefängnisruinen von Khiam lassen sich noch die Spuren der Isolationszellen besichtigen

  • Dieter Reinisch, Khiam
  • Lesedauer: 8 Min.
Im Gefängnis von Khiam saßen auch bis zu 500 Frauen ein, hier der zerstörte Frauentrakt.
Im Gefängnis von Khiam saßen auch bis zu 500 Frauen ein, hier der zerstörte Frauentrakt.

Nur der Trakt mit den Isolationszellen und die Metallboxen, in denen Gefangene hockend eingesperrt wurden, sind noch erhalten. In den winzigen Boxen konnten sich Gefangene nicht bewegen. Licht und Luft kam nicht hinein, nur der Lärm: Stundenlang waren Gefangene darin eingesperrt, während die Wärter pausenlos von außen auf die Metallwände der »Hühnerkäfige« genannten Boxen hämmerten. »Weißer Lärm« wird diese Folterart genannt.

Sie wurde von den Briten zunächst bei 14 Aktivisten im August 1971 in Nordirland angewendet. Die USA setzten sie in Abu Ghraib und Guantanamo ein. Im Libanon wendeten Israel und seine Stellvertreterarmee South Lebanon Army (SLA) weißen Lärm im Gefängnis von Khiam im Südlibanon ein. 15 Jahre, bis zum 23. Mai 2000, folterten der israelische Geheimdienst Shin Bet und die SLA in Khiam. Elf Gefangene kamen dabei zu Tode, hunderte erlitten körperliche Schäden, tausende leiden unter dem psychischen Trauma.

Auch Abo Ali war als junger Mann mehrere Jahre in Khiam eingesperrt und wurde gefoltert. Heute ist der kleine, ältere Mann der lokale Leiter des Gedenkorts. Kurz vor Mittag empfängt er mich im Vorhof des ehemaligen Gefängnisses. Die Sonne steht hoch, es ist brütend heiß. Das Tor ist rot-weiß bemalt, die Farben der Fahne des Libanon; auf beiden Seiten ist der grüne Zedernbaum, das Symbol des Landes, aufgemalt, darüber weht am Giebel die gelbe Fahne der Hisbollah.

Khiam liegt tief im Süden des Libanon. Die israelische Grenze ist nur drei Kilometer entfernt, noch näher befinden sich im Südosten die von Israel besetzten Sheeba-Farmen am Fuß der ebenfalls von Israel besetzten Golan-Höhen. Die dominierende politische und militärische Kraft ist hier die »Islamische Widerstandsbewegung«, wie sich die Hisbollah selbst bezeichnet.

Der Autor (l) mit dem ehemaligen Gefangenen Abo Ali (m) in Khiam
Der Autor (l) mit dem ehemaligen Gefangenen Abo Ali (m) in Khiam

Mein Fahrer, Tarek, ein Druse aus einem südlichen Vorort Beiruts, hatte mich bereits um acht Uhr morgens abgeholt. Von der Hauptstadt nach Khiam sind es zwar nur 95 Straßenkilometer, doch Khiam liegt südlich des Flusses Litani. Bis ins Jahr 2000 wurde das Gebiet von Israel besetzt. Heute operiert hier die United Nations Interim Force in Lebanon (Unifil), eine der ältesten Beobachtermission der Vereinten Nationen. Im Sektor Ost der Unifil-Mission um Khiam sind spanische Soldaten stationiert.

Um in das Gebiet reisen zu dürfen, muss ich als Ausländer zunächst eine Genehmigung des libanesischen Militärs in Sidon einholen. Das Armeehauptquartier liegt fast direkt gegenüber einem Eingang zu Ain Al-Hilweh, dem größten palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon.

Ohne eine beim Militär hinterlegte Kopie meines Reisepasses erhalte ich keine Einreiseerlaubnis. Doch beim nächstgelegenen Copyshop funktioniert der Kopierer nicht. Die Straße hinauf nach Norden gibt es einen weiteren Copyshop. Der hat zwar einen funktionsfähigen Kopierer, aber der Strom geht nicht. Wir sollten es doch im Geschäft nebenan probieren, heißt es.

Die ältere Dame, die den Laden betreibt, winkt uns heran. Sie hat unser Gespräch belauscht, nimmt mir meinen Reisepass ab und legt ihn auf einen kleinen Canon-Drucker mit Kopierfunktion. Vor der Tür wirft ihr jugendlicher Sohn das Stromaggregat an.

Strom wurde in den vergangenen Monaten zum Luxusgut. Seit der schweren Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 leidet auch die Hauptstadt an Strommangel: Straßenlaternen, Tunnelbeleuchtung und Ampeln sind dauerhaft abgeschaltet. Tarek hatte daher einen schweren Autounfall auf der Fahrt vom Flughafen nach Beirut. Im stockdunklen Tunnel fuhr er an die Wand, weil er eine Kurve nicht rechtzeitig erkannte. Mehrere Monate lag er im Spital. Er könne nur noch mit Stock gehen und sein linkes Bein sei taub, erzählt er mir. Ich bezweifle aber zunehmend, dass der Zustand seines Beins der Grund für seinen Fahrstil ist. Er dürfte bereits vor seinem Unfall das Bremspedal eher gemieden haben – bei Hindernissen auf der Straße betätigt er vorzugsweise die Hupe.

Zurück im Armeegebäude mit einer Reisepasskopie in der Hand werde ich von zwei Beamten im ersten Stock befragt, wieso ich in den Süden wolle und ob ich schon einmal »in Palästina war«. Nach einigen für sie zufriedenstellenden Antworten erhalte ich ein Formular, mit dem ich mir im Erdgeschoß die Einreiseerlaubnis für den Süden ausstellen lassen kann. Die Verhaltensregeln: »Keine Fotos der Grenze, keine Gespräche mit Einheimischen. Aufnahmegeräte und Kameras dürfen nicht mitgenommen werden.« Der Libanon bezichtigt Ausländer im Süden, die Infrastruktur für Israel auszuspionieren.

Mit der Genehmigung in der Tasche geht es weiter. Nach Sidon verlassen wir vor der Ortschaft Aqbijeh die Autobahn Richtung Osten. Am 14. Dezember wurde dort der irische Unifil-Soldat Seán Rooney erschossen, als Schüsse auf einen UN-Konvoi abgegeben wurden. Die Umstände des Attentats sind nicht geklärt. Nach einer Untersuchung übergab die Hisbollah den mutmaßlichen Schützen am 26. Dezember den Behörden.

Für uns geht es vorbei an der Festung Beaufort aus dem 12. Jahrhundert in den Südosten. Die Fahrt über den Litani erfolgt problemlos. Nach einer kurzen Durchsuchung des Kofferraums lassen uns die Soldaten passieren und wenige Kilometer weiter erreichen wir Khiam. Auf 800 Meter Seehöhe liegt das ehemalige Gefängnis.

Im Vorhof sitzt Abo Ali auf einem weißen Plastikstuhl unter einem Baum. Hier sind die ehemaligen Verwaltungsgebäude noch intakt. Darin befinden sich ein winziges Museum mit Utensilien der ehemaligen Gefangenen, ein Gebetsraum und ein Besprechungszimmer. Vor einer lebensgroßen Pappfigur des iranischen Ajatollahs Ali Chamenei bittet er, ein Foto von uns machen zu können. Bevor er das Handy nimmt und abdrückt, vergewissert sich Ali: »Darf ich Sie fotografieren oder werden Sie dafür in ihrem Land eingesperrt?« Ich versichere ihm, dass es schon in Ordnung sei, und er knipst freudig ein Foto von mir mit dem Papp-Ajatollah.

Der Komplex wurde 1933 als französische Militärbasis errichtet, als das Gebiet ein Völkerbundmandat war. Zehn Jahre später wurde es der libanesischen Armee übergeben. Nach dem israelischen Einmarsch übernahm es 1982 zunächst das israelische Militär (IDF). 1985 baute es den Komplex um und übergab es der SLA, einer christlich-maronitischen Stellvertreterarmee Israels. Geleitet wurden die Verhöre weiterhin vom Shin Bet.

Ali führt uns in das Innere der berüchtigten Haftanstalt. An den östlichen und südlichen Ecken ist noch die Bausubstanz aus französischer Mandatszeit zu erkennen. Der restliche Komplex ist fast zur Gänze zerstört. Schuttberge türmen sich auf, die Dächer sind eingefallen. Von Mauern hängt rostiger Stacheldraht, dazwischen wehen gelbe Hisbollah-Fahnen und rot-weiße Nationalflaggen des Libanon. In einer Ecke steht altes Kriegsgerät der Hisbollah: gepanzerte Fahrzeuge, Lkw und Raketenabschussrampen.

Ali führt uns durch den noch teilweise existierenden Südtrakt. Eine Handvoll Zellen sind erhalten, darin Metallbetten mit Matratzen und Laken. Ein Loch im Boden war die Toilette für Zellen, in die oft 20 Männer hineingepfercht wurden. Auf der anderen Seite liegen die rund einen Quadratmeter engen Isolationszellen, in die kein Licht eindrang.

Vor einer Metallvorrichtung bleibt Ali stehen. »Hier wurde ich angebunden«, sagt er. Er dreht sich gebückt zum Gitter, hebt die Hände und presst seine Handgelenke zusammen: »So wurde ich mit Drähten angebunden, eine Kapuze wurde mir aufgesetzt und ich wurde stundenlang mit Kabeln geschlagen – mehrmals pro Woche.«

Andere Foltermethoden waren Elektroschocks, Aufhängen an den Händen, bis nur noch die Zehen den Boden berührten, Schlaf- und Nahrungsentzug sowie Waterboarding mit Eiswasser im Winter. 5000 Personen wurden hier zwischen 1985 und 2000 ohne Anklage festgehalten, darunter auch 500 Frauen. Ihnen wurde der Hijab weggenommen und sie wurden vergewaltigt. Die jüngsten Gefangenen waren 14 Jahre.

Die Insassen waren überwiegend Mitglieder der schiitischen Milizen Amal und Hisbollah, der Libanesischen Kommunistischen Partei, der großsyrischen Syrischen Sozialistischen Nationalistischen Partei und der Volksfront zur Befreiung Palästinas. Amnesty International und Human Rights Watch veröffentlichten 1992 beziehungsweise 1999 detaillierte Berichte über die Folterungen. Israel leugnete jegliche Verantwortung.

Am Morgen des 23. Mai 2000, zwei Tage vor dem Abzug der israelischen Armee aus dem Südlibanon, befreiten 3000 Dorfbewohner die 144 verbliebenen Gefangenen. Danach wandelte die Hisbollah das ehemalige Gefängnis in ein Museum und eine Gedenkstätte um. Während des Kriegs im Juli 2006 bombardierte Israel Khiam und das Museum. Damals zerstörte Israel auch einen UN-Bunker. Dabei starben vier Unifil-Soldaten, unter ihnen der Österreicher Hans-Peter Lang. Beim Gehen zeigt mir Ali die Reste einer 500-Kilogramm-Fliegerbombe: »Das ist die Bombe, die Israel 2006 hier abwarf. Sie wollten die Erinnerung an ihre Verbrechen in Khiam vernichten.«

Die Folterer von damals wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Der SLA-Führer Atoine Lahd floh nach Frankreich, wo er im September 2015 starb. Gefängnisleiter Amer Fakhoury, genannt der »Schlächter von Khiam«, ging 1998 nach Israel. Mit israelischem Pass zog er weiter in die USA, wo er die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Wegen Kollaboration mit Israel und Folter wurde er in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Im September 2019 versuchte der damals 57-jährige, in den Libanon einzureisen, wurde aber am Flughafen verhaftet. Auf Drängen des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, der dem Libanon Wirtschaftssanktionen androhte, wurde er im März 2020 freigelassen und mit einer US-Militärmaschine außer Landes gebracht. Das Vorgehen führte zu Protesten der Überlebenden von Khiam. Drei Tage später, am 24. März, wurde der enge Vertraute von Fakhoury, Atoine Al-Hayek, selbst SLA-Aufseher in Khiam, von einem Attentäter nahe Sidon erschossen.

Auf dem Rückweg kauft uns Tarek Fleisch und Fladenbrot, fährt dann zur Grenze. Wir essen am Straßenrand im Schatten eines Olivenbaums, nur ein Feld trennt uns vom Grenzzaun und von der israelischen Ortschaft Metulla. Die drei israelischen Soldaten im 100 Meter entfernten Bunker sind sichtlich nervös wegen unserer Anwesenheit. Nur wenige hundert Meter weiter östlich starb am 30. Dezember ein syrischer Landarbeiter, als er mit seinem Traktor in Wazzani, dem Nachbarort von Khiam, auf der libanesischen Seite der Grenze auf eine israelische Landmine fuhr.

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