Wege aus der Zwickmühle

Uneinigkeit über Zielzahlen bei der Lehrkräfteausbildung in der Hauptstadt

Der Lehrermangel an Berlins Schulen verschärft sich – und entwickelt sich zum Wahlkampfthema, wieder einmal. Am Dienstagabend diskutierten Vertreter von Parteien, Senat und Hochschulen auf Einladung des Bündnisses »Schule muss anders« und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) über die Lehrkräftebildung an den Universitäten. Hintergrund sind die Verhandlungen über die Hochschulverträge, die jüngst begonnen haben und bis zum Herbst abgeschlossen werden sollen.

Die große Herausforderung stellte eingangs Claudius Baumann vor. Er hat vor kurzem ein Lehramtsstudium abgeschlossen und startet nun in das Referendariat. Für seine Masterarbeit hat er den Lehrkräftebedarf in Berlin untersucht. Aktuell gibt es demnach etwa 1000 Stellen für Lehrkräfte, die nicht besetzt werden können. Der Mangel werde sich aber »drastisch verschärfen«, warnte Baumann. Denn die Stadt steckt in einer demografischen Zwickmühle: In der Generation, die gerade studiert oder kurz davor steht, gab es einen Geburtenknick; zugleich ist die Zahl der Kinder im Schulalter deutlich gestiegen. Die Lücke vergrößert sich noch, weil Berlins Lehrerschaft vergleichsweise alt ist. 10 000 Lehrkräfte würden bis 2030 in den Ruhestand gehen, rechnete Baumann vor.

Weil das Problem absehbar war, gibt es bereits seit etwa zehn Jahren Versuche gegenzusteuern, bislang aber nur mit begrenztem Erfolg. Nachdem in den Hochschulverträgen, die die Finanzierung der Universitäten regeln, Zielzahlen festgeschrieben worden waren, verdoppelte sich die Zahl der Absolventen zwar seit 2017 in etwa. Die Zielmarke von zunächst 1000, dann 2000 Absolventen konnte aber nie erreicht werden. 2022 schlossen gerade einmal 920 Studierende im Lehramt ihr Studium ab. Auf Basis der Bevölkerungsprognose müsste die Zielzahl aber bei 3000 Absolventen im Jahr liegen, damit der Bedarf gedeckt werden könne, so Baumann.

Wie sich das an den Schulen auswirkt? »Bei uns gibt es extrem viel Ausfall«, sagte etwa Leila Melaouhi Del Valle, Mitglied des Vorstands des Berliner Schüler*innenausschusses. Das sei ungerecht, weil es so vom Glück abhänge, wie gut man sich auf das Abitur vorbereiten könne. »Jedes Kind hat einen angemessenen Schulstart verdient«, sagte sie. Ein Lehrer, der nur »Hannes« genannt werden wollte, berichtete von den täglichen Herausforderungen seines Berufs. »Mobbing bis hin zu Erpressung ist bei uns an der Tagesordnung«, sagte er. Häufig fehle aber die Zeit, um sich angemessen damit auseinanderzusetzen. »Wir geben uns Mühe, aber kommen nicht hinterher«, sagte er. Viele Lehrkräfte gäben deswegen schon ihren Beruf auf. Ihn treibe vor allem eine Frage um: »Wann kann ich mit mehr Kollegen rechnen?«

Der Weg dahin dürfte schwer werden, wie in der Diskussion schnell deutlich wurde. Aktuell seien die Hochschulen nicht in der Lage, 3000 Lehramtsabsolventen im Jahr auszubilden, sagte Niels Pinkwart, Vizepräsident für Lehre der Humboldt-Universität. »Manche Bereiche der Unis fahren schon jetzt auf Höchstlast.« Sie könnten nicht noch mehr belastet werden. In den vergangenen Jahren seien bereits 1500 neue Studienplätze geschaffen worden. Zugleich sinke die Zahl der Bewerber. Trotzdem: »Wir sind bereit, neue Aufgaben zu übernehmen« – dafür sollte der Senat aber auch die entsprechende Finanzierung zur Verfügung stellen.

30 Millionen Euro »vornehmlich für den Kapazitätsausbau« seien bereits beschlossen, berichtete Armaghan Naghipour (parteilos, für Grüne), Staatssekretärin für Wissenschaft. Auch sie bezweifelte, dass die Fokussierung auf 3000 Lehramtsabsolventen sinnvoll sei. In Abstimmung mit dem restlichen Senat strebe sie eher 2300 Absolventen jährlich an. Sich auf solche Zahlen zu konzentrieren, sei ohnehin »nicht zielführend«, da aktuell entscheidender als die Zielvorgabe die Frage sei, wie die Universitäten dabei unterstützt werden könnten, so viele Studierende wie möglich zum Abschluss zu begleiten. Ihr Senatskollege Alexander Slotty (SPD), Staatssekretär für Bildung, verwies darauf, dass es auch in anderen Bereichen Fachkräftemangel gebe, den die Hochschulen auffangen müssten.

Tobias Schulze, wissenschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, forderte dagegen, ambitionierter zu handeln. »Man kann nicht sehenden Auges in den Mangel gehen«, sagte er und verwies auf Prognosen aus der Bildungsverwaltung selbst. Man solle mit einer ambitionierten Zielzahl die Priorität des Themas zeigen, auch wenn das Erreichen mit den momentanen Kapazitäten schwierig sei. Er widersprach auch dem Eindruck, dass die Zielzahl schon bestimmt sei. »Die Zielzahl steht fest, wenn die Koalition sich auf eine geeinigt hat«, sagte er. 2300 sei »ein Vorschlag der Senatsverwaltung«.

Damit liegt er auf einer Linie mit seiner Fraktion, die am Dienstag einen Antrag für das Plenum des Abgeordnetenhauses beschlossen hat. Darin wird erneut die Forderung nach 3000 Absolventen bekräftigt. Die Hochschulverträge müssten auch die Option auf Sanktionen enthalten, sollten die Zielzahlen verfehlt werden. Für die Lehrkräftebildung sollen zusätzliche Gelder, die über den bereits zugesicherten Mittelaufwuchs hinausgehen, bereitgestellt werden, um die Kapazitäten dauerhaft zu vergrößern, heißt es in dem Antrag.

Auch jenseits der Kapazitätsfrage gibt es indes Hürden. Das Praxissemester, in dem die Lehramtsstudierenden eigenständig unterrichten, sei ein »Nadelöhr«, sagte GEW-Landeschefin Martina Regulin. Für Studierende sei es schwierig, in dieser Zeit nebenbei zu arbeiten. Zur Abfederung könnten Stipendien für dieses Semester eingeführt werden. Auch sei die Betreuung im Studium nicht ideal, sodass überdurchschnittlich viele Lehramtsstudierende ihr Studium abbrächen.

Zur Wahrheit gehört: Auch andere Bundesländer stehen vor demografischen Herausforderungen und rechnen für die kommenden Jahre mit einem sich weiter verschärfenden Lehrermangel. Die Idee des ehemaligen Berliner Bildungsstaatssekretärs Mark Rackles (SPD), mit einem Staatsvertrag die Ausbildung bundesweit zu regeln, hält Alexander Slotty nicht für praktikabel. Weil ein solcher Beschluss die Haushaltshoheit der Länder berühren würde, sei Einstimmigkeit notwendig. Das halte er für unrealistisch. Eine vertiefte Kooperation wolle Berlin, das aktuell den Vorsitz der Kultusministerkonferenz innehat, aber trotzdem anstreben.

Immerhin, ein kleines Ziel konnte die Podiumsdiskussion am Dienstag erreichen: Über die Hochschulverträge, die sonst hinter verschlossenen Türen zwischen Hochschulen und Senat verhandelt wurden, wird nun öffentlich diskutiert. Staatssekretärin Naghipour kündigte an, diese Transparenz fortzuführen. »Von unserer Seite aus sind wir offen zu berichten«, sagte sie. In welchen Formaten dies geschehen kann, ist aber noch unklar.

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