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»Roads not taken« - Eine neue Ausstellung im DHM lädt zum Nachdenken über alternative Geschichte an

Was wäre Europa, was der Welt erspart geblieben, wenn die Reichswehr rechtzeitig vor der Ernennung von Adolf Hitler durch den Reichspräsidenten und Weltkriegsgeneral a.D. Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 zum Kanzler in Deutschland geputscht hätte? Gewiss eine sehr spekulative Frage. Und doch ist es legitim, diese zu stellen. Gleichwohl gerade ein Putsch von ehemals Kaisers Generälen die wohl abwegigste Möglichkeit aller Möglichkeiten zu sein scheint. »Es war nur ein Gerücht«, klärte Dan Diner bei einer Podiumsdiskussion im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin auf. Und dennoch sollte es den Lauf der Ereignisse beschleunigen.

Bei den Reichstagswahlen im November 1932 hatte die NSDAP über zwei Millionen Stimmen eingebüßt, befand sich erkennbar auf einem absteigenden Ast. Die plötzliche Inthronisation Hitlers überraschte sogar dessen fanatische Anhänger, selbst einen seiner treuesten Paladine, den späteren Propagandaminister Josef Goebbels, der von einem »Wunder« sprach. Die Mitte Januar in der Presse und von Mund zu Mund kolportierte Mär, dass Kurt von Schleicher, seit Dezember 1932 Reichskanzler, den militärischen Ausnahmezustand ausrufen und Hitler verhaften lassen wolle, hatte offenbar Wirkung gezeitigt, zumindest auf die Kamarilla um den greisen Generalfeldmarschall im Reichspräsidentenpalais. Inwieweit diese allerdings ernsthaft einen Bürgerkrieg befürchtete, sei dahingestellt. Solche Befürchtungen hatte man 1919 nicht, als man die Revolution mit Freikorps blutig abwürgte. Und Schleicher, der im Frühjahr 1930 am Sturz des letzten sozialdemokratischen Kanzlers der Weimarer Republik, Hermann Müller, beteiligt war, sicherlich auch nicht.

Es gab realistischere Optionen, Hitler zu verhindern. Etwa ein deutschlandweiter Generalstreik, zu dem die Kommunisten aufgerufen haben. Zu einem solchen kam es einzig im württembergischen Mössingen, einer von Textilindustrie geprägten kleinen Gemeinde mit gerade mal 4200 Einwohnern. Deutschlandweit war es der einzige Versuch, Hitler noch am Tage der Machtübergabe zu verhindern. Daran erinnerte die Diskussion im Pei-Anbau des DHM nicht, die den Auftakt zu monatlich stattfindenden thematischen Debatten gab. Auffällig war auch, dass die Moderatorin Gesine Schwan, ehemals Präsidentin der Europa-Universität in Frankfurt/Oder sich begeistert von Diners Ansatz zeigte, während der Historiker Norbert von der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der mehr dem systemischen Blick auf Geschichte zugeneigt ist, sich verhaltener, skeptischer zeigte.

Dort ist seit Ende vergangenen Jahres eine Ausstellung unter dem Titel »Roads not Taken« zu sehen, deren Ideengeber Dan Diner ist. Anhand von Schlüsseldaten deutscher Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert soll zum Nachdenken darüber angeregt werden, dass es und wie es durchaus auch anders hätte kommen können. Welche anderen Entscheidungen und Ereignisse waren angelegt, sind aber nicht eingetreten? Welche Chancen blieben ungenutzt? Welche Rolle spielten Persönlichkeiten oder die Massen und welche der Zufall?

Diner betonte, keine kontrafaktische oder fiktive Geschichte erzählen zu wollen, sondern das Eingetretene durch Erkundung von Alternativen und Abzweigungen besser zu verstehen. Geschichte wird von Menschen gemacht, ist offen und doch stets eng verknüpft mit bestimmten Konstellationen, Konflikten und Kräfteverhältnissen, Handlungen und Unterlassungen. Es geht dem 1946 in München als Sohn von »Displaced Persons« geborenen deutsch-israelischen Historiker um die Potenziale von ausgebliebener Geschichte, verhindert durch Unwägbarkeiten oder individuelle Unzulänglichkeiten – in der Geschichtsphilosophie Kontingenz genannt, die Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden.

Der emeritierte Professor für Neuere Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und ehemaliger Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte an der Universität Leipzig weiß natürlich, auf welches Wagnis er sich mit seinem Konzept einließ. Spekulieren ist der Historiker Ding gemeinhin nicht. Wie die Redakteurin dieser Zeitung aus eigener Erfahrung weiß: Für eine Artikelserie vor vielen Jahren unter der Fragstellung »Was wäre wenn …«, die von der Antike über die Reformation bis in die Gegenwart führte, ließen sich die angesprochenen Wissenschaftler erst nach einigem Zögern überreden und waren wie die Redakteurin überrascht, ob der empfundenen Lust dabei und des Erkenntnisgewinns daraus.

Die neue Exposition im DHM ist gewiss ein ungewöhnliches Experiment, in zweierlei Hinsicht. Abgesehen vom hypothetischen Ansatz begibt man sich hier in gedanklichem Krebsgang, bewegt sich rückwärts in die Geschichte. Auch ein Wagnis, weil bekanntlich das eine das andere bedingt, voraussetzt und nach sich zieht. Oberstes Credo seriöser Wissenschaft ist, nicht mit dem Kenntnisstand Nachgeborener auf Vergangenes und auf Vorläufer zu schauen, gar besserwisserisch zu urteilen. Aber auch hierzu hat Diner eine Antwort parat: Die Ausstellung soll mit ihrem ungewohnten Blick von 1989 zurück in die Jahre 1848/49 auch ethisch-moralische Fragen aufwerfen. Raphael Gross, Direktor des DHM, der Diner explizit ermuntert hatte, erklärte zur Eröffnung der Exposition: »Es ist eine Ausstellung, die genau das macht, was Historikerinnen und Historiker eigentlich immer tun: Sie versuchen sich in eine historische Situation hineinzuversetzen und zu fragen, warum etwas eigentlich genau so passiert ist.«

Die sich auf 1000 Quadratmeter erstreckende Ausstellung bietet zu jedem der 14 auserkorenen Schnitt- oder Wendepunkte deutscher Geschichte einen »Wirklichkeitsraum«, der das tatsächlich eingetretene Ereignis beschreibt, sowie einen »Möglichkeitsraum«, der mehr oder weniger wahrscheinliche, aber zum Glück oder Unglück ausgebliebene Weichenstellungen andeutet.

Die Schau beginnt mit der »Glücklichen Revolution« in der DDR im im Herbst 89. Zu sehen sind freudetrunkene Menschen auf der Berliner Mauer. Dass es an der durch einen Lapsus von Politbüro-Mitglied Günter Schabowski in der Nacht vom 9. zum 10. November durchbrochenen Grenze und in den darauf folgenden Tagen nicht zum Einsatz staatlicher Gewalt kam, wird als ein Glücksmoment deutscher Geschichte gefeiert. Es hätte auch anders kommen können, suggeriert ein Foto von den knapp ein halbes Jahr zuvor auf den Tian’an Men-Platz in Peking auffahrenden Panzern. Die Befürchtungen der Demonstranten in der DDR, dass sie ein gleiches Schicksal wie die chinesischen Studenten ereilen könnte, versinnbildlichen ein Zitat von Stasi-Chef Erich Mielke sowie ein Plakat von der Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November: »Achtung! Krenz ist der Himmlische Frieden«. Herausgefordert ist der Besucher, sich zu fragen: War es die Gewaltfreiheit der Demonstrierenden, ein Machtvakuum zwischen den agierenden Politikern und der Unzufriedenheit artikulierenden Bevölkerung oder ein reiner Zufall, dass es in der DDR friedlich blieb und die Revolution glückte? Man hätte hier natürlich auch konzedieren oder kommentieren können, dass die Riege um den letzten SED-Generalsekretär Egon Krenz, der in der Tat das Massaker in Pekin im Juni ‹89 noch rechtfertigt hatte, gleiches Vorgehen in der DDR nicht intendierte.

In der für Geschichtsmuseen untypisch umgekehrten Chronologie geht es weiter mit der Entspannungspolitik von Willy Brandt, gewürdigt als Meilenstein deutscher Nachkriegsgeschichte. Sie brachte dem sozialdemokratischen Kanzler jedoch ein von der CDU/CSU angestoßenes Misstrauensvotum ein. Wäre dieses geglückt, wären dann die Neue Ostpolitik durch ein Bundeskabinett unter Rainer Barzel abrupt beendet und die im Potsdamer Abkommen der Alliierten fixierten Grenzen Deutschlands wieder infrage gestellt worden? Zwei Stimmen retteten Brandt am 24. April 1972. Schon damals kochte die Gerüchteküche: Waren die beiden Abgeordneten der CDU und CSU bestochen worden? Und von wem? HVA-Chef Markus Wolf enthüllte nach der Wende in seinen Memoiren den Namen des Christdemokraten, der mit 50 000 DM zur Stimmenthaltung bewogen worden sei. Erst 2006 wurde aus Stasiunterlagen bekannt, dass der abtrünnige CSU-Abgeordnete IM des ostdeutschen Geheimdienstes war. Die DDR hat Brandt aus der Patsche geholfen. Und verschuldete zwei Jahre darauf dessen »Sturz«. Nach der Verhaftung des HVA-Spions Günter Guillaume im Bundeskanzleramt erklärte Brandt entgegen eindringlicher Bitte seines Mitstreiters Egon Bahr am 7. Mai 1974 seinen Rücktritt. Damals soll Wolfs Stuhl ernstlich gewackelt haben, die SED-Parteiführung war not amused.

Als nächster Kippunkt in deutsch-deutscher Teilungsgeschichte wird eine Provokation ausgemacht, deren Anlass ein banaler war. Am 27. Oktober 1961 fuhren US-amerikanische Panzer am Grenzkontrollpunkt am Checkpoint Charly in Berlin auf, denen sich sogleich sowjetische entgegenstellten. DDR-Grenzpolizei hatte einen GI, der die Oper in Ostberlin besuchen wollte, nicht durchgelassen. 16 Stunden Bangen hüben wie drüben. Befürchtet wurde eine Konfrontation mit Kettenreaktion – bis hin zum Einsatz von Atomwaffen. Wahn und Kalkül dicht beieinander. Das Bundesinnenministerium startete die »Aktion Eichhörnchen«, forderte die Bevölkerung zur Anlegung von Vorräten auf. Manch Besucher mag da der Innenminister der Merkel-Regierung, Thomas de Maizière, in den Sinn kommen, der Jahrzehnte später ebenfalls zur Anlegung privater Lebensmitteldepots animierte. Oder die obskuren Werbespots der gegenwärtigen Bundesregierung, sich für Katastrophenfälle einzudecken.

In der DHM-Ausstellung ist Sitzmobiliar (in kräftigem Rot) aus dem Regierungsbunker in Marienthal zu bewundern, der in den Jahren 1960 bis 1972 unter strengster Geheimhaltungn 25 Kilometer südlich von Bonn angelegt worden ist. Die seinerzeitige Hysterie, befeuert durch die Kuba-Krise im Oktober 1962, als die Welt tatsächlich an einem nuklearen Abgrund stand, verdeutlicht ebenso ein Spielset: »Fulda Gap«. Nur durch das bedachte Handeln und vernünftige Einigung zwischen John F. Kennedy und Nikita S. Chrustschow konnte die Gefahr eines Atomkrieges gebannt werden – die im Jahr des Mauerbaus nicht bestand. Zweieinhalb Monate vor diesem hatten sich am 3. und 4. Juni 1961 der US-Präsident und der sowjetische Staats- und Parteichef in Wien auf einen Status quo in der Deutschlandfrage verständigt. Schadenfroh offerierte die (Ost)»Berliner Zeitung« ihren Lesern einen Sonderdruck der Enttäuschung spiegelnden Titelseite von »BILD« am 17. August.

Die Gefahr eines Atombombenabwurfes wegen Deutschland habe es indes sehr wohl gegeben, meinen die Ausstellungsmacher. In angloamerikanischen Militärkreisen sei man davon ausgegangen, dass der Zweite Weltkrieg sich bis Herbst 1945 hinziehen könnte. Keine Unwahrscheinlichkeit wäre es der Wehrmacht gelungen, die Brücke von Remagen zu sprengen und so westalliierte Truppen eine Zeitlang vom rüstungsrelevanten Ruhrgebiet fernzuhalten. Da dies nicht glückte, konnten jene zügig nazideutschen Boden betreten. Die bereits in der Wüste von Nevada erprobte Atombombe hätte im Sommer 1945 über Ludwigshafen ausgeklinkt werden sollen, mutmaßen die Kuratoren wegen der dort ansässigen I.G. Farben-Fabriken.

Sind die Deutschen nur durch die Kapitulation einem nuklearen Schlag entgangen? Oder hätten sie selbst auch noch einen solchen ausführen können? Die Exposition informiert über die Fortschritte deutscher Kernphysiker und Raketenbauer, die nach der Befreiung vom Faschismus von den Siegermächten für eigene Projekte »entführt« wurden. Zu sehen ist in einem Glaskasten ein kleiner schwarzer Quader, der noch radioaktiv ist, »minimalst«, wie der Guide die Besucher beruhigt. Seine Bemerkung, dass bei einem Stopp der Westalliiierten bei Remagen »der Russe« womöglich bis Düsseldorf durchmarschiert wäre, jagte der Schar Interessierter keinen – wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges – eiskalten Schauer über den Rücken.

Eine beiläufig verschobene Aktentasche, eine Fehlzündung und ein ungeahnt schwerer Eichentisch: Haben unglückliche Zufälle das Attentat von Claus Schenk Graf zu Stauffenberg auf Hitler scheitern lassen? Oder sollte man nicht eher von Stümperhaftigkeit deutscher Offiziere sprechen, wenn es um eine gute Sache ging? Wie viele Menschenleben hätte ein erfolgreicher Anschlag bewahrt. Sicherlich noch Zigtausende, darunter vielleicht auch den Maler Felix Nussbaum und dessen Frau, die Künstlerin Felka Platek, im Spätsommer 1944 in Auschwitz ermordet. Der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 kam indes für die Mehrheit der von den Nazis deportierten Juden zu spät. Auf dem in der Ausstellung hängenden Gemälde von Nussbaum, »Triumph des Todes«, entstanden im April 1944, kurz vor seiner Verhaftung, ist der Zivilisationsbruch des Genozids an den Juden festgehalten. Eine Leihgabe des Nussbaum-Hauses in Osnabrück.

Übrigens: Nicht wenige der Verschwörer waren Antisemiten. Und das Image Stauffenbergs als Ikone, so heldenhaft und erinnerungswürdig seine Tat auch war, belasten wenig bekannte Äußerungen, wonach er Angehörige der slawischen Völker als »Pöbel« ansah, nur zu gebrauchen als Arbeitskräfte in der deutschen Industrie und Landwirtschaft.

Über die Besetzung des Rheinlandes 1936, Wirtschaftskrise und Hyperinflation in den angeblich »Goldenen Zwanzigern« wird der Faden »Was wäre wenn …« weitergesponnen bis in das Jahr 1948/49. Wie wäre die Deutschen Geschichte verlaufen, wenn die bürgerlich-demokratische Revolution gesiegt und damals schon eine einiges Deutschland als parlamentarische Monarchie zustande gekommen wäre. Nachgezeichnet ist auf einer großformatigen Landkarte sowie mittels Schattenbildern die Reise einer Abordnung des Paulskirchenparlaments in Frankfurt am Main nach Berlin, um König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone anzutragen. Eine Grafik vermittelt einen Eindruck vom jubelnden Empfang der Kaiserdeputation vor dem Potsdamer Bahnhof am 1. April 1849. Der preußische Monarch jedoch lehnte brüsk ab, er sah sich als ein Herrscher von Gottes Gnaden, wollte keinen mit dem »Ludergeruch der Revolution« behafteten Thron. Allzu voreilig war ein Frankfurter Doppelgulden auf die Kaiserwahl Friedrich Wilhelm IV. geprägt worden, in der Ausstellung als Leihgabe des Historischen Museums der Stadt am Main zu beäugen.

Es vergingen fast zwei Jahrzehnte, bis mit der Schlacht bei Königgrätz in Böhmen am 3. Juli 1866 eine Vorentscheidung zur »kleindeutschen Lösung«, der Reichseinigung unter Ausschluss Österreichs, erfolgte. Nach einem erneuten Krieg, gegen Frankreich, holte der preußische Junker Otto von Bismarck 1871 seinem König die deutsche Kaiserkrone, abgehandelt auch mit finanzieller Spritze für die durch Bayerns Märchenkönig Ludwig bankrotten Wittelsbacher. Bezeichnend: Die Skulptur »Germania« im vorletzten Raum der Ausstellung zeigt auf ihrem rechten Knie den Preußenadler, während der bayerische Löwe aufs Gesäß verbannt ist.

Keine Geschichtsausstellung kommt heute ohne Multimedia und Mitmachstationen aus. So auch diese, in der abschließend die Besucher den Herbst 89 auf den Straßen von Leipzig nacherleben und als Akteure eingreifen können. In der ausstellungsbegleitenden Filmreihe im Zeughauskino, derzeit wegen der Sanierung des Hauptgebäudes im Pei-Bau, werden historische Fiktionen im Film gezeigt.

Ob der Ideengeber oder die Kuratoren bei der Wahl des Titels »Roads not staken« an die britisch-US-amerikanische Koproduktion von 2020 dachten, sei dahingestellt. Fakt ist, man darf und sollte auch in der Gegenwart über Alternativen nachdenken – und sie vor allem rechtzeitig ergreifen. Bevor es zu spät ist.

»Roads not taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können«, Deutsches Historisches Museum, bis 24. Februar 2024; Begleitprogramm, Filmreihe und Führungen siehe Website des DHM

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