Autoritäre Agenda für Israel

Die aktuellen Proteste zeigen, wie zerrissen das Land zwischen Autoritarismus, Demokratie und Besatzung ist

  • Gil Shohat, Tel Aviv
  • Lesedauer: 8 Min.

Zwölf Wochen schon protestieren wöchentlich hunderttausende Teilnehmer*innen gegen die Politik der Regierung, vor allem gegen die geplante »Justizreform« zur radikalen Schwächung der unabhängigen Gerichtsbarkeit im Land. Seit Amtsantritt der mittlerweile sechsten Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Dezember 2022 hat sich der ohnehin schon raue politische Diskurs in Israel nochmals verschärft.

Der zentrale Grund für diese Entwicklung liegt in der atemberaubenden Geschwindigkeit und Radikalität, mit der die ultrarechte und in Teilen rechtsextreme Koalition um Netanjahu, Justizminister Jariv Levin, Finanzminister Bezalel Smotrich und den Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, Gesetzesentwürfe durch die Ausschüsse und die Vollversammlung der Knesset peitschen. Das Hauptziel dieser Koalition ist nicht weniger als der endgültige Sieg über liberale, einschließlich rechtsliberaler Kräfte in Israel sowie die Zementierung ihrer autoritären Agenda durch eine massive Begrenzung der Räume für gesellschaftliche, politische und juristische Kontrolle und Opposition.

Angriff auf die Gewaltenteilung

Die nun aufgeschobenen, doch keineswegs aufgehobenen Gesetzesvorhaben wurden teilweise bereits in erster oder zweiter Lesung verabschiedet. Sie sehen einen wachsenden Einfluss der Regierung auf die Berufung der Richter*innen des Obersten Gerichtshofs vor. Dies gilt vor allem mit Blick auf die Möglichkeit, Entscheidungen des Gerichtshofs über die Vereinbarkeit neuer Gesetze mit den sogenannten Grundgesetzen des israelischen Staates mit einfacher Mehrheit von 61 der 120 Knesset-Mitglieder zu überstimmen. Seit der Staatsgründung 1948 verfügt Israel weder über eine Verfassung noch über eine endgültig definierte Staatsgrenze.

Die Bezeichnung dieser Gesetzesvorhaben variiert je nach politischer Couleur: Was die Anhänger*innen als »Justizreform« bezeichnen, nennen die Gegner*innen »juristischer Umsturz«. Das Oberste Gericht wird seitens der israelischen Regierung – ähnlich wie etwa in Polen, Ungarn, der Türkei oder auch den USA unter Trump – mithilfe von Verschwörungserzählungen als Verkörperung einer nicht legitimierten Elite (»der tiefe Staat«) dargestellt, die durch die Kassierung von Gesetzen eine ihr nicht zustehende politische Macht ausübe. Dabei geht es auch um die Frage, ob der wegen schwerer Korruptionsvorwürfe angeklagte Netanjahu durch das Gericht für amtsunfähig erklärt werden könnte; die Hürden dafür wurden in der vergangenen Woche durch ein neues Gesetz massiv erhöht.

Doch die derzeitige Regierung begnügt sich nicht mit diesem offenen Angriff auf die Gewaltenteilung. Bis zum 24. März wurden 140 Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht, darunter Maßnahmen zur Repression und Kontrolle: die Aufstellung einer bewaffneten Bürgermiliz zur Unterstützung der Polizei – unter direkter Führung des Ministers für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir; eine stärkere Kontrolle über Berufungsverfahren an Universitäten; die Zerschlagung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Soziale Fragen vernachlässigt

Drängende innenpolitische, vor allem soziale Fragen, bearbeitet die Regierung hingegen nicht: die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sowie zwischen Zentrum und Peripherie; die horrenden Lebenshaltungskosten; die Wohnungsnot in Ballungsräumen wie Tel Aviv; der Lehrkräftemangel an Schulen und Kindertagesstätten; die ausufernde Waffengewalt und die damit zusammenhängende Zahl an Morden, vor allem an Frauen; die Ausbeutung marginalisierter Gruppen auf dem Arbeitsmarkt, etwa Palästinenser*innen aus Gaza und dem Westjordanland, Geflüchteter ohne Aufenthaltsstatus, Gastarbeiter*innen.

Die aktuelle Protestbewegung ist mehrheitlich eine patriotische, zentristische Bewegung, das belegen die Breite ihrer Unterstützer und ihre zunehmende Betonung der Gefahr der nationalen Sicherheit. Die überwiegende Mehrheit der Demonstrierenden versteht sich als Verkörperung des vermeintlich »wahren«, weil demokratischen, israelischen Patriotismus, wie die inflationäre Verwendung israelischer Fahnen zeigt. Demnach sei es patriotische Pflicht, wie der vorherige Ministerpräsident und jetzige Oppositionsführer Jair Lapid feststellt, nicht unter einer Regierung zu dienen, die den demokratischen Charakter des Landes unterminieren wolle. Auch erkennt die Protestbewegung in Netanjahus Winkelzügen lediglich den Versuch, seine eigene Macht zu sichern. Es überrascht daher nicht, dass die Proteste auch nach der Verkündung einer Dialogpause weitergehen.

Israels Linke im Dilemma

Für die stark dezimierte Linke des Landes stellen die massiven Proteste ein Dilemma dar, weil sie im Grundsatz patriotisch sind und Leerstellen der israelischen Demokratie ausklammern. Der überwiegende Teil der Demonstrierenden und der Redner*innen beschwört die Stärke der israelischen Demokratie und scheint mit der Forderung nach »Demokratija« eine Beibehaltung des Status quo zu meinen. Damit setzt sich der Ausschluss der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels fort, die diesen Demonstrationen denn auch mehrheitlich, wenngleich nicht vollständig, fernbleiben. Sie finden sich ganz überwiegend nicht in den national aufgeladenen Formeln und Symbolen wieder und werden kaum in die Protestbewegung eingebunden, kritisieren Vertreter*innen der palästinensischen Zivilgesellschaft und Politik in Israel. Teilweise ist es auch vorgekommen, dass Reden palästinensischer Aktivist*innen in Israel im Vorhinein abgeändert werden sollten, da sie aus Sicht der Veranstalter*innen zu radikal waren.

Dennoch gibt es – zumindest auf den wöchentlichen Demonstrationen in Tel Aviv und Haifa – einen signifikanten »Anti-Besatzungsblock« mit Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie der Parteien Hadasch und Meretz. Dort wird die strukturelle Diskriminierung der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels angeprangert und die Unvereinbarkeit von Demokratie mit einer seit fast 56 Jahren währenden, völkerrechtswidrigen Besatzung des Westjordanlands kritisiert. Trotz anderslautender Beteuerungen Netanjahus in der internationalen Arena treibt seine Regierung eine weitere Eskalation der Siedlungspolitik voran. Erst in der vergangenen Woche hat die Knesset das 2006 verabschiedete Gesetz zur Räumung illegaler Außenposten im nördlichen Westjordanland kassiert und damit scharfe Kritik aus den USA und der EU auf sich gezogen. Im Einklang mit den inzwischen fast täglichen, oftmals tödlichen Einsätzen der israelischen Armee und der sich ausweitenden Gewalt israelischer Siedler*innen, wie zuletzt beim von der Armee weitgehend zugelassenen Pogrom von Huwara, belegt dies, dass die auf den ersten Blick rein innenpolitischen Konflikte Israels auch schwerwiegende Konsequenzen für die palästinensische Bevölkerung zeitigen – auf beiden Seiten der sogenannten Grünen Linie, die die Waffenstillstandslinie von 1949 demarkiert.

Teil des globalen Autoritarismus

Die Einordnung der israelischen Regierung in den globalen Autoritarismus kann helfen, die sich aktuell überschlagenden Geschehnisse analytisch besser zu fassen. Denn dabei wird zum einen ersichtlich, dass die Netanjahu-Regierung in der Tat ganz ähnlich vorgeht wie rechtspopulistische und rechtsradikale Regierungen in anderen Ländern. Zum anderen kommt hinzu, dass vor allem der diskursive Unterton Ausdruck einer lang anhaltenden rechten Hegemonie im Land ist – mit und ohne Netanjahu an der Regierung –, die sich nun immer stärker in autoritärer politischer Programmatik niederschlägt.

Doch die Einordnung der politischen Entwicklungen in globale autoritäre Trends reicht nicht hin als Erklärung, da Israel zu alldem auch noch Besatzungsmacht ist – mit allen damit einhergehenden Konsequenzen für die demokratische Verfasstheit. Nicht zufällig weitet die radikale Rechte derzeit die Kategorisierung von Staatsfeinden aus. Was in Bezug auf die Palästinenser*innen etwa häufig unter der Bezeichnung »Terroristen« subsumiert wird, findet in Bezug auf die Antiregierungsproteste seinen Widerhall in der Bezeichnung »Anarchisten«, die vor allem Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir gerne zur Diffamierung der Protestbewegung nutzt. Der Feind wird also nicht mehr nur außen, sondern auch innen ausgemacht. Die sich nun aufbauenden Proteste ultrarechter Gruppierungen, auf denen Parolen wie »Linke sind Verräter« skandiert werden, tragen ihr Übriges zur Zuspitzung der Lage bei.

Israels Linke braucht Solidarität

Wie kann eine linke, progressive Reaktion auf diese dramatische Situation aussehen? Darüber wird derzeit intensiv diskutiert. Es gilt zunächst anzuerkennen, dass die mobilisierte Bevölkerung die noch vorhandenen demokratischen Räume nutzt, um ihren Protest vorzutragen. Dieser Möglichkeitsraum wird derzeit dafür genutzt, inklusive und progressive Ideen zur Zukunft des Landes zu entwickeln – jenseits einer befürchteten »Faschisierung« Israels einerseits und einer bedingungslosen »Loyalität zur Unabhängigkeitserklärung« anderseits. Der ehemalige Knesset-Abgeordnete Dov Khenin nannte dies kürzlich in einem Beitrag für die Tageszeitung »Haaretz« einen »aufbauenden Widerstand«. Das bedeutet gleichzeitig, die Politik der Regierung auch jenseits der nun vertagten Entscheidung zur »Justizreform« in ihrer Gänze zu analysieren: Regressive, autoritäre Gesetzesvorhaben werden schließlich weiterhin verabschiedet und treffen vor allem die Schwächsten in der israelischen Gesellschaft sowie die Palästinenser*innen in Gaza und im Westjordanland.

Israel steht vor entscheidenden Wochen. Wir erleben das Auseinanderbrechen der jüdisch-israelischen Gesellschaft und können noch nicht sagen, wohin diese Entwicklung führen wird. Zwar ist die ultimative Konfrontation vorerst abgewendet, doch bleibt weiterhin unklar, wie die Protestbewegung auf die Verlangsamung der »Justizreform« durch Netanjahu reagieren wird – zumal nun auch die radikale Rechte ihren Zorn auf die Straße trägt. Der Protest vom vergangenen Montagabend mit gewalttätigen Übergriffen auf regierungskritische Demonstrant*innen, Journalist*innen und unbeteiligte Palästinenser*innen verheißt nichts Gutes für die kommenden Wochen.

Die ultimative Konfrontation von Judikative und Exekutive in Israel ist fürs Erste aufgeschoben. Jetzt steht das Pessachfest an; ob dies zu einer Beruhigung oder Eskalation der Proteste führt, ist offen. Fest steht jedoch, dass linke Akteur*innen in Israel nicht nur Durchhaltevermögen und Geduld benötigen, sondern auch die Solidarität der internationalen Linken. Das sollte sich auch die deutsche Linke zu Herzen nehmen.

Der Autor leitet seit März 2023 das Büro der
Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

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