Inflation als Naturschauspiel

Leo Fischer über die Darstellung von Ökonomie und Krisen als schicksalhafte Ereignisse

Die Mieten steigen, die Preise steigen, die Krankenkassenbeiträge ebenso. Gleichzeitig werden die Leute immer konservativer. Der Verlauf der Inflation ist schwer vorherzusagen, aber wahrscheinlich wird sie auf hohem Niveau anhalten. Was haben alle diese Aussagen gemeinsam? Sie stellen soziale Fakten als Naturschauspiel dar: als Ausdruck von Schwankungen und Tendenzen, die letztlich menschlicher Kontrolle entzogen sind – während sie doch fortwährend von Menschen über Menschen gebracht werden wie ein Verhängnis.

Die Inflation ist so ein merkwürdiges Naturschauspiel: Erste Studien bestätigen den Verdacht, dass sie mit den Preisen nur peripher zusammenhängt. Im Gegenteil versuchen Einzelhändler unter dem Deckmantel der Inflationsanpassung, den Preis bestimmter Waren experimentell hochzuhalten – mal sehen, wie lange die Leute noch zahlen. Eine Inflation erklärt nur wenige der explodierenden Preise, auch wegbrechende Lieferketten sind höchstens eine Komponente davon – und sind auch schon wieder so eine Naturalisierung. Lieferketten werden quasi wie Brücken oder Dämme imaginiert, die ganz von selbst wegbrechen können, ohne menschliches Zutun.

Leo Fischer (print)
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge und entsorgt den liegengelassenen Politikmüll. Alle Texte auf dasnd.de/vernunft.

Aber natürlich brechen Lieferketten nicht von selbst weg, Preise explodieren nicht von selbst, und »die Wirtschaft« schwankt auch nicht. Unternehmen, Verbände, Kartelle treffen diese Entscheidungen aktiv – wenn auch unter bestimmten Zwängen. In der öffentlichen Darstellung sind diese Zwänge aber weniger wichtig als die Naturalisierungen des Sozialen, die eine doppelte Ausrede bieten: Sie entbinden die Führungspersonen der Wirtschaft ebenso von Verantwortung wie die Politiker*innen, die deren Treiben wenigstens theoretisch Einhalt gebieten könnten. Einem Holzkartell ließe sich etwas entgegensetzen, Personen ließen sich anklagen, Fehlverhalten nachweisen; »Schwankungen auf dem Markt« hingegen ereignen sich in unerreichbarer Abstraktion.

Die Beschreibung der Wirtschaft als Naturgeschichte wird in der Öffentlichkeit überraschend wohlwollend angenommen. Politiker*innen können sich als Techniker*innen inszenieren, als pragmatisch handelnde Macher*innen, die mit wissenschaftlicher Kühle auf die Schwankungen in der Wirtschaftsnatur blicken. Die auf Arbeit und Konsum fixierte Mittelschicht nimmt es dankbar an: Die Naturkräfte des Marktes werden von Fachleuten beherrscht, Fachleuten wie mir; entsprechend werden in der Berichterstattung Reißleinen gezogen, Schwellenwerte beobachtet, Sicherheitsprotokolle etabliert.

Die Wirtschaft ist quasi ein Waldbrand, der kontrolliert und eingehegt und von Wirtschaftspolitiker*innen zum Abbrennen gebracht wird. Die Preissteigerung ist sozusagen ein Deichbruch, aber keine Sorge, schon wird hier studiert, modelliert und abgefedert; Fachleute haben sich der Sache angenommen. Dass die entsprechenden Fachleute oft von den Firmen entsandt werden, Lobbyisten, Gutachter und Unternehmensvertreter in der Praxis oft in Personalunion agieren, stört dabei nur am Rande. Der Deichbruch gibt uns Hinweise zu seiner Bewältigung, der Waldbrand beschreibt sich selbst als unvermeidlich.

Eine personalisierende, wer weiß, sogar humanisierende Wirtschaftsberichterstattung wäre näher an der Wahrheit, würde die Probleme als bewältigbar zeigen – und würde doch schlechter ertragen werden. Die Wirtschaft ist uns als Mythologie erträglich. Als menschliches Produkt erst wird sie uns unheimlich.

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