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Auf den Spuren der Sklavenarbeit

Die brasilianische Gewerkschaft Contar versucht, Arbeitsrechtsverstöße auf Farmen aufzudecken

  • Knut Henkel, Juazeiro
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Gewerkschaft Contar sucht den Kontakt zu Landarbeiter*innen auf den Plantagen. Doch nicht immer gelingt das.
Die Gewerkschaft Contar sucht den Kontakt zu Landarbeiter*innen auf den Plantagen. Doch nicht immer gelingt das.

Der Traktor auf dem Nachbargrundstück zieht eine Wolke hinter sich her, die sich über die Rebstöcke verteilt. »Vorsicht. Abstand halten. Das sind Pestizide«, ruft Carlos Eduardo Silva der kleinen Gruppe zu, die er gerade über die Weintraubenfarm von Dona María* am Sāo Francisco führt. Die Flussebene im brasilianischen Bundesstaat Bahia ist eine zentrale Anbauregion für Weintrauben und Mangos in Brasilien. Silva, Anwalt der Gewerkschaft Contar, die sich für die Landarbeiter*innen einsetzt, ist hier regelmäßig unterwegs. Der Mann mit dem buschigen Vollbart und dem schütteren Haupthaar kümmert sich um Verstöße gegen die Arbeitsrechte, er verteilt aber auch Weiterbildungsbroschüren für potenzielle und bestehende Mitglieder der Gewerkschaft. »Wer nicht weiß, was ihre oder seine Rechte sind, ist im Nachteil«, wispert er und achtet darauf, dass die Unternehmerin Dona María nichts mitbekommt.

Nicht allzu oft hat Silva, den seine Kolleg*innen nur Cadu nennen, die Chance, eine Weintraubenfarm zu besuchen. Viele Betriebe gehören Großgrundbesitzer*innen, die seiner Gewerkschaft meistens nicht wohlgesonnen sind. Das Verhältnis war in den vergangenen Jahren angespannt. »Die Regierung von Jair Bolsonaro ist den Gewerkschaften feindselig gegenübergetreten. Es wurde sogar darüber diskutiert, die Gewerkschaftsfreiheit zu beschneiden«, sagt der 41-jährige Jurist, der in Brasília seinen Schreibtisch in der Contar-Zentrale hat, aber regelmäßig in den Agrarstaaten Brasiliens wie Bahia, Minas Gerais oder Espírito Santo unterwegs ist. Zum Angriff auf gewerkschaftliche Grundrechte, wie es in den Hinterzimmern der konservativen Parteien und der Agrarlobby durchaus diskutiert wurde, ist es zwar nicht gekommen, aber die Gewerkschaften standen die vier Bolsonaro-Jahre unter permanentem Druck.

Das ist auch in der Region rund um Juazeiro spürbar, wo auf den lockeren, leicht sandigen Böden in der Flussebene Trauben und Mangos en gros angebaut werden. José Manoel dos Santos ist hier aufgewachsen, aber auch er wird auf den großen Obstfarmen nicht eingelassen: »Wir kommen morgens vor Schichtbeginn, sprechen mit unseren Kontakten, aber haben nicht das Recht, das Farmgelände zu betreten«, erklärt er, der heute mit Silva und María Samara de Souza, der Contar-Vertreterin für den Bundesstaat Bahia, die Möglichkeit hat, mit organisierten Arbeiter*innen auf der Farm von Dona María zu sprechen. Allerdings im Beisein der Besitzerin.

»Das läuft dann so ähnlich, wie bei den Inspektionen der großen Auditoren wie Global Gap oder Rainforest Alliance«, erklärt Silva. Er kritisiert, dass nicht unabhängig und separat mit den Arbeiter*innen gesprochen werden kann und ausbeutende Arbeitsverhältnisse oft nicht erkannt werden. Die sind in der Kaffee-, Orangen- oder Traubenernte weit verbreitet. Der jüngste Skandal wurde Anfang März aufgedeckt. Dutzende Arbeiter*innen wurden aus extrem prekären Verhältnissen auf Weingütern im Bundesstaat Rio Grande do Sul befreit. Mit Stromstößen aus Pistolen sollen sie zur Arbeit auf den Plantagen genötigt worden sein.

Das sind keine Einzelfälle. In Brasilien wurden im vergangenen Jahr 2575 Menschen aus sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen befreit. Das sei die höchste Zahl seit 2013, schreibt Leonardo Sakamoto, Direktor von Repórter Brasil. Die Nichtregierungsorganisation, die mit Studien, Dokumentationen und Öffentlichkeitsarbeit auf Arbeitsrechts- und Menschenrechtsverletzungen aufmerksam macht, weist darauf hin, dass die tatsächlichen Zahlen deutlich höher sein könnten. »Der Etat der Ombudsstelle für Grundrechte wurde rigoros zusammengestrichen. Auch das Arbeitsministerium auf nationaler Ebene wurde kaputtgespart, Inspektionen in abgelegenen Ortschaften scheiterten manchmal am fehlenden Benzin«, erklärt Sakamoto.

Er hofft wie Contar-Anwalt Silva auf eine Verbesserung der Situation unter der neuen Regierung, die das versprochen hat. Angesichts der Dimension des Problems sei das auch nötig, meint Silva: »Zwischen 1995 und 2022 sind 77 000 Menschen aus sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen in Brasilien befreit worden.«

Allerdings haben Regierung und Gewerkschaften eine starke Opposition gegen sich. Denn Brasiliens Agrarlobby, die Soja, Kaffee, Orangensaftkonzentrat, Mangos und etliches mehr in Europas Supermärkte schafft, ist gut vernetzt im Parlament. Zweimal hat sie, angeführt von Sojaproduzent*innen, Jair Bolsonaro den Wahlkampf finanziert. Bolsonaro hat im Gegenzug die Kontrollen zur Beseitigung der modernen Sklaverei im Agrarsektor ausgedünnt. Die Agrarlobby ist mächtig. Ihr ist zuzutrauen, dass sie Vorhaben der neuen Regierung auszubremsen vermag, die mehr Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft fordert und das Ende der illegalen Abholzung in der Amazonasregion bis 2030 ausgerufen hat.

Das sind Ziele, die auch die Gewerkschaften mittragen. »Natürlich ist das im Interesse der Arbeiter*innen«, erklärt Contar-Vorsitzende für den Bundesstaat Bahia, María Samara de Souza. Bis vor vier Jahren hat die 32-Jährige mit den langen schwarzen Haaren und einer verspiegelten Brille, die sie gemeinsam mit einer Baseballkappe vor der hoch am Himmel stehenden Sonne schützen soll, noch selbst in den hochgebundenen Rebstöcken gearbeitet. »Drei, vier Monate brauchen die kleinen Früchte noch, bis geerntet wird«, schätzt sie.

»Wir sind in dieser Region im Gegensatz zu anderen Trauben-Anbaugebieten gut aufgestellt und haben eine Organisationsquote von knapp 50 Prozent. Frauen spielen dabei eine wichtige Rolle.« Samara de Souza ist die erste Frau an der Spitze der Contar-Gewerkschaft im Bundesstaat Bahia. Sie muss sich nicht nur gegen patriarchale Strukturen durchsetzen, sondern auch gegen die Polarisierung im Land: in das Bolsonaro- und das Lula-Lager. »Hier in Bahia hat die Arbeiterpartei zwar knapp gewonnen, aber wir haben auch in der Gewerkschaft durchaus Bolsonaro-Anhänger«, erzählt sie.

Sie braucht diplomatisches Geschick und Durchsetzungsvermögen, um die Neuausrichtung der Gewerkschaft für den nachhaltigeren Kurs der Regierung zu moderieren. Gleiches gilt für Verhandlungen über einen neuen Tarifvertrag mit Arbeitgeber*innen wie Dona María. Sie sei froh, verlässliche Verhandlungspartner*innen in den Tarifverhandlungen zu haben, sagt die Unternehmerin. »Das sorgt für ein friedliches Miteinander zwischen mir, den leitenden Angestellten und den rund 50 Arbeiter und Arbeiterinnen auf der 17 Hektar großen Plantage.« Allerdings, klagt sie, wisse sie heute noch nicht, wie sie die Lohnerhöhung von monatlich 1302 Reais, umgerechnet 235 Euro, auf 1420 Reais finanzieren soll, die bei den laufenden Tarifverhandlungen von der Contar verlangt wird. »Dann muss ich schließen«, warnt sie lapidar.

Landarbeit in Brasilien: Auf den Spuren der Sklavenarbeit

Ihre Reaktion ist typisch für viele Unternehmer*innen in Brasilien, wo sich die meisten der Anbauflächen, aber auch Bankeinlagen und Immobilien in der Hand einer relativ kleinen Schicht befinden. Es weist die höchste Land- und Einkommenskonzentration in ganz Lateinamerika auf. Diese Ungleichheit hat sich unter der Regierung von Jair Bolsonaro weiter zugespitzt, argumentieren Nichtregierungsorganisation wie Réporter Brasil.

Damit die Erntearbeiter*innen ein gutes Tarifergebnis erzielen, hoffen sie auch auf Unterstützung von großen Importeuren aus Deutschland. »Supermarktketten und große Fruchtimporteure sind es, die sich aufs Lieferkettengesetz einstellen müssen, das dort seit dem 1. Januar in Kraft ist«, erzählt Silva. Er hofft, dass das Gesetz hilft, die Rechte der Landarbeiter*innen zu schützen. »Wir haben eine gewisse Erwartungshaltung«, meint er und hofft, dass ein ähnliches Gesetz der EU in diesem Jahr noch kommen wird: »Internationaler Druck für den Schutz der Arbeitsrechte in Brasilien ist ausdrücklich erwünscht.«

Positiv auf die Arbeitsbedingungen könnten sich auch Kontrollen auf Pestizid-Rückstände in Lebensmitteln auswirken. Bei Kaffee ist es bereits zur Rücksendung von gelieferter Bioqualität gekommen, weil die Ladung Rückstände von Schädlingsbekämpfungsmitteln enthielt. Das könnte auch bei Weintrauben und Mangos passieren, bei deren Anbau laut Gewerkschaft bis zu 36 verschiedene Pestizide zum Einsatz kommen. Es werde immer mehr gespritzt, sagt Samara de Souza. »In Brasilien sind Pestizide erlaubt, die in Europa verboten sind. Das könnte beim Export von Mango und Trauben zum Problem werden«, glaubt die Gewerkschafterin. Es könne durchaus passieren, dass ganze Container mit Mangos und Trauben aufgrund von Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln zurückgesandt werden.

Für Brasiliens Fruchtkonzerne wäre das ein Desaster und eine direkte Folge der Bolsonaro-Jahre. Dessen Regierung hat mehrere Dutzend neuer Schädlingsbekämpfungsmittel mit unterschiedlichen Wirkstoffen freigegeben. Das könnte nun zum Bumerang werden. Für die Erntepflücker*innen wäre das durchaus wünschenswert, da sind sich Silva und Samara de Souza einig. Schließlich wären sie dann weniger den toxischen Pestiziden ausgesetzt.

* Name von der Redaktion geändert

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