Doku »Bildungsgang«: Nachdenken über das Nicht-Mitmachen

Der Film »Bildungsgang« begleitet Jugendliche, die mit dem heutigen Schulsystem nichts anfangen können und nach Alternativen suchen

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 4 Min.
Das Wichtigste scheint zu sein, lernen, auszuhalten, was ist.
Das Wichtigste scheint zu sein, lernen, auszuhalten, was ist.

Im Jahr 1966 forderte Adorno in seiner »Erziehung nach Auschwitz« für die politische Pädagogik eine »Wendung zum Subjekt« und als Inhalt der Erziehung »Autonomie« und »die Kraft zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen«. Adorno schreibt, »aller politische Unterricht« sollte darin »zentriert sein, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. … Dazu müßte er in Soziologie sich verwandeln, also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren, das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat.«

Trotz nahezu 60 Jahren, die vergangen sind, und trotz vieler positiver Entwicklungen seither ist das Schulsystem hierzulande nach wie vor und unter kapitalistischen Bedingungen (dem »gesellschaftlichen Kräftespiel«) auch letztlich unumgänglicherweise stark darauf ausgerichtet, Mehrwertproduzenten heranzubilden – von Erziehung zu Autonomie ist das nach wie vor weit entfernt.

Dass sich ein Teil der jungen Menschen, die derart auf ihr Funktionieren getrimmt werden, gegen ein solches für sie unsinnig und belastend erscheinendes Zwangssystem intuitiv und mit zunehmendem Alter auch intellektuell wehrt, ist kaum verwunderlich. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Jedenfalls legt das der Film »Bildungsgang« nahe, die erste Regiearbeit des jungen Künstlers und Filmemachers Simon Marian Hoffmann.

Der Film begleitet eine Gruppe Schüler*innen bei einem Projekt, bei dem sie mehrere Monate in verschiedenen künstlerischen, diskursiven, aber auch in politischen Formen über ihre eigenen Erfahrungen und Emotionen während ihrer Schulkarriere reflektieren, dagegen protestieren und politische Schlüsse und Perspektiven entwickeln. »Bildungsgang« ist keine distanziert abwägende Dokumentation, stattdessen bietet der Film dem Furor einer Gruppe von Jugendlichen eine agitatorische Plattform, die sich vor allem über die Verhältnisse, in die sie gezwängt werden, auskotzen und gleichzeitig neue, freiere Formen suchen und diskutieren.

Diese filmische Herangehensweise verbindet den Inhalt der Aktionen und Protestformen der Protagonisten mit einer Form, die wie jene energisch, laut und entschlossen wirkt, aber fast immer scheitert, wenn versucht wird, Emotion und leidenschaftliches Empfinden und Meinen in stichhaltige Argumente oder nachvollziehbare konkrete politische Forderungen zu überführen.

Das dauernde Sich-Beziehen auf »Demokratie« (Robert Kurz merkte einmal zu Recht an, dass man in einer Gruppe Kannibalen wunderbar demokratisch bestimmen kann, wer als Nächstes in den Topf wandert) und das Grundgesetz, das den kapitalistischen Herrschaftsformen ja in keiner Weise entgegensteht und nicht ohne Weiteres gegen diese gewendet werden kann, aber auch Vorstellungen wie die, wonach die Schule »die einzige Instanz« sei, »die in unserer Demokratie noch nicht demokratisiert« ist, wie Hoffmann selbst im Film meint, übersehen, dass die gesellschaftliche Organisation unter kapitalistischen Bedingungen grundsätzlich nicht besonders demokratisch ist.

Demokratische Elemente sind bei politischen Entscheidungen weitgehend ausgeschlossen. Kein Chef, nicht einmal der Abteilungsleiter im Großraumbüro wird gewählt; es gehört zum Wesen des Kapitalismus, dass Privatleute über Lohnhöhe, Gegenstand und Menge der Produktion oder die Arbeitsbedingungen bestimmen, die wiederum den Regeln des »automatischen Subjekts« zu folgen haben. Alles, was Hoffmann in »unserer« Demokratie wählen kann, sind verschiedene Gruppen des Verwaltungsapparates, der für den reibungslosen Ablauf der Kapitalverwertung zu sorgen hat.

Überhaupt wird im Film an Plattitüden wie »Wir leben in einer Demokratie« oder an der dauernden Sorge um verschenkte »Potenziale« schon bedenklich viel falsche Identifikation mit genau dieser bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Ideologie deutlich, die für die herrschenden Verhältnisse verantwortlich ist. Zu viele der Überlegungen im Film bleiben überdies im Unbestimmten; statt eines ernsthaften politischen Diskurses bekommen wir meist enervierende, wolkige Metaphern präsentiert, von »Visionen, die wie helle Sterne am Himmel leuchten«, und Ähnliches.

Dennoch ist »Bildungsgang« ein interessiertes Publikum zu wünschen, denn mit ihrer grundsätzlichen Kritik haben die sehr jungen Protagonisten ja recht, und einige der Statements sind reflektiert und treffen den Nagel auf den Kopf, zum Beispiel wenn festgestellt wird, dass man nur dann etwas erreichen kann, wenn man sich zusammentut, und dass es ein sehr stärkendes Gefühl sein kann. Als Anstoß für eine nach wie vor notwendige Debatte über freiere Formen der Bildung ist der Film durchaus gelungen.

»Bildungsgang«. Deutschland 2022. Regie: Simon Marian Hoffmann. 96 Min. Start: 11.5.

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