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Familie Genç: Entschlossen gegen Rassismus

Wie die türkeistämmige Community und Überlebende auf den Brandanschlag in Solingen reagiert haben

  • Özge Sarp
  • Lesedauer: 6 Min.
Özlem Genç, Mevlüde Genç und ihr Mann Durmus (von links) am 25. Jahrestag zum Brandanschlag von Solingen
Özlem Genç, Mevlüde Genç und ihr Mann Durmus (von links) am 25. Jahrestag zum Brandanschlag von Solingen

In der Nacht des 29. Mai 1993 brennt es in dem dreistöckigen Haus der Familie Genç in Solingen. Zwei junge Frauen und drei Mädchen sterben. Die Opfer sind Töchter, Enkelinnen und eine Nichte von Mevlüde und Durmus Genç, die in den 1970er Jahren aus dem türkischen Dorf Mercimek in Amasya nach Deutschland eingewandert sind: Gürsün İnce (27), Hatice Genç (18), Gülistan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4). Zwei von ihnen sterben beim Sprung aus dem Fenster, drei kommen durch die Flammen ums Leben. 14 Familienangehörige überleben, einige lebensgefährlich verletzt.

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Der Brandanschlag in Solingen ist einer der folgenschwersten rassistischen Anschläge in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Reaktion der türkeistämmigen Community war massiv, voller Trauer, Wut und Angst. Nicht nur das: Menschen wie Mevlüde Genç haben sich entschlossen dafür eingesetzt, dass Türkeistämmige friedlich und »wie Menschen« in Deutschland leben können.

Wenige Tage nach der Tat wurden vier Männer im Alter zwischen 16 und 23 Jahren festgenommen. Alle stammen aus Solingen, der 16-Jährige wohnte in einem Haus gegenüber der Familie Genç. Der damalige Bürgermeister Bernd Krebs sagte Jahre später, dass nach der Verhaftung in Solingen Zweifel aufkamen, ob die Männer tatsächlich die Täter sein können: »Für einige war es unbegreiflich, dass die Jugendlichen, die aus besten bürgerlichen Kreisen kommen, zu einer solchen entsetzlichen Tat fähig sind.«

Die Realitäten von Migrant*innen und Geflüchteten waren schon damals anders. Auch vor dem Brandanschlag gab es in Solingen rassistische Angriffe: Brandstiftungen in Moscheen, ein Überfall von bewaffneten Nazis aus Solingen auf eine Unterkunft von Geflüchteten, rassistische und rechtsextreme Parolen auf Plakaten. Nur wenige Straßen entfernt von dem Haus der Familie Genç gab es einen Treffpunkt von Rechtsextremen: Eine Kampfsportschule, die von einem Mann betrieben wurde, der sich in dem Solingen-Prozess als V-Mann des Verfassungsschutzes öffentlich bekannt gab. Dort waren die Täter und viele andere Rechtsextreme aktiv. Der damalige NRW-Innenminister Herbert Schnoor sagte dazu später: Der V-Mann sei überprüft worden. Und der damalige Verfassungsschutzchef von NRW, Fritz-Achim Baumann, befand: »Wenn der V-Mann davon gewusst hätte, hätte er selbstverständlich sofort an uns berichten müssen.«

Die Integrationsbeauftragte Anne Wehkamp äußerte sich zunächst schockiert: »Wenn man mich drei Tage vorher gefragt hätte, hätte ich noch gedacht, so was ist in Solingen nicht möglich.« In einem Interview zum 25. Jahrestag des Anschlags räumte sie dann einen möglichen Zusammenhang mit der politischen Lage ein: »Das muss man schon sagen, dass es damals auch sehr massive Diskussion gab (zur) Asylrechtsverschärfung, und diese Debatten um ›Das Boot ist voll‹ Die fand ich unsäglich«. Nur drei Tage vor dem Anschlag hatte der Bundestag eine massive Asylrechtseinschränkung beschlossen, die begleitet war von einer rassistischen Rhetorik in der politischen Debatte.

Die türkeistämmige Community reagierte mit massiven Protesten auf die rassistischen Morde. Wut und Trauer trieb die Menschen auf die Straßen – wenige Monate vor Solingen waren im November 1992 in Mölln drei Menschen bei einem Brandanschlag auf zwei von türkeistämmigen Familien bewohnte Häuser getötet worden. Viele schlossen sich in selbstorganisierten Gruppen zusammen. Auf den tödlichen Rassismus und den fehlenden Schutz durch die Politik reagierte die Community mit wütenden Parolen auf Demonstrationen: »Solingen Nazilere Mezar Olacak« – »Solingen wird ein Friedhof für die Nazis sein«. Auf einem der Banner an dem verbrannten Haus stand: »Erste Früchte des Asylkompromisses«. Viele hatten Angst, ihnen drängte sich der Gedanke auf, dass »es jederzeit auch uns treffen kann«. Ein Schriftzug an der verbrannten Fassade des Hauses forderte die türkische Regierung auf, gegen das Sterben der türkeistämmigen Migrant*innen in Deutschland vorzugehen: »Ankara uyuyor, Naziler öldürüyor« – »Ankara schläft, Nazis töten«.

Hatice Genç, die ihre neun- und fünfjährigen Töchter Hülya und Saime verloren hatte, drückt ihre Wut über den damaligen Kanzler Helmut Kohl in Interviews in dem Buch »Die Solingen Akte« aus. Er hatte sich geweigert, zu der Trauerfeier zu gehen und von »Beileidstourismus« gesprochen. »Sie schöpfen Kraft aus dem kahlköpfigen Kohl und setzen ihre Angriffe fort«, sagte Hatice Genç. Und sie bedankte sich bei den Demonstranten, »sie haben unseren Schmerz geteilt. Sie taten sogar ein wenig gegen solche Deutschen.«

Der Gerichtsprozess zu dem Brandanschlag dauerte vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf anderthalb Jahre. Nach 127 Verhandlungstagen wurden alle vier Angeklagten im Oktober 1995 wegen fünffachen Mordes, 14-fachen Mordversuchs und besonders schwerer Brandstiftung zu Haftstrafen zwischen 10 und 15 Jahren verurteilt. Rassismus wurde als Tatmotiv anerkannt. Verbindungen zwischen den Tätern und rechtsextremen Netzwerken sowie dem V-Mann des Verfassungsschutzes wurden jedoch nicht aufgeklärt.

In dem Buch »Die Solingen Akte« von den Journalisten Metin Gür und Alaverdi Turhan ist festgehalten, wie die Familie Genc und ihr Anwalt Adnan Menderes Erdal das Prozessende schildern: »Als die Verhandlung vorbei war, gingen wir zu den Richter*innen. Drei der fünf Mitglieder des Gerichts schüttelten Bekir (der Sohn von Mevlüde Genç, der den Anschlag schwerverletzt überlebt hatte) zuerst die Hand. Wir verabschiedeten uns nacheinander von den Richtern und Generalstaatsanwälten und dankten ihnen für ihre Entscheidung.«

Mevlüde Genç hat ein halbes Jahrhundert in Deutschland gelebt. Dass Solingen nicht vergessen wird, dazu hatte sie über viele Jahre kraftvoll beigetragen. Sie warb dafür, dass Türkeistämmige friedlich in Deutschland leben können: »Wir wollen wie Menschen leben und wie Menschen miteinander umgehen. Unsere Jugendlichen und viele unserer Menschen leben hier in Deutschland. Ich wünsche mir ein respektvolles und freundschaftliches Miteinander«, sagte sie 2018 in einem DW-Interview zum 25. Jahrestag des Brandanschlags. Mevlüde Genç starb im vergangenen Jahr im Alter von 79 Jahren.

Ich durfte sie bei der Gedenkveranstaltungen zum 25. Jahrestag von Solingen kennenlernen. Sie würde wahrscheinlich auch zum 30. Jahrestag mit ihrer ruhigen, eindringlichen und kraftvollen Stimme ähnlich wie in den letzten Jahren sprechen, wo sie einmal sagte: »Ich verspüre keinen Hass gegen die Menschen. Wir sind alle Geschwister. Ich fühle mich unterstützt vom deutschen und türkischen Staat. Nur diese vier Tätern, denen werde ich nie verzeihen.«

Die von Mevlüde Genç geforderte Versöhnung wurde von Politiker*innen und Medien positiv aufgenommen. Auch zum 30. Jahrestag des Solinger Brandanschlags werden wieder hochrangige Politiker*innen und Vertreter*innen des deutschen und türkischen Staates zu der Gedenkveranstaltung kommen. Dem Wunsch von Mevlüde Genç nach einem respektvollen und friedlichen Miteinander bleibt Deutschland indes ihr und allen Opfer rassistischer Gewalt weiterhin schuldig. Den Anschlägen in Mölln und Solingen folgten die Morde und Anschläge des NSU sowie von Hanau. Und die Politik beschließt weitere »Asylkompromisse«.

Solingen ist keine Narbe aus der Vergangenheit, sondern Teil einer rassistischen Realität in Deutschland. Und die deutsche Politik kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen, wenn sie einmal im Jahr selbst von »Versöhnung« spricht.

Dass die Verstorbenen nicht vergessen werden, dass es keine weiteren Opfer gibt, ist ein gemeinsamer Wunsch von Opferangehörigen der Anschläge. Darum geht es auch in den täglichen Kämpfen gegen Rassismus und für ein gleichwertiges Leben – auch heute, 30 Jahre nach Solingen.

Özge Sarp ist Sozialwissenschaftlerin und Menschenrechtsaktivistin. Sie arbeitet als Beraterin bei ReachOut, einer Initiative, die Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus anbietet.

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