Gefährdete Notübernachtung: 65-mal Angst vor dem Winter

Die Finanzierung der 24/7-Notübernachtung für Frauen in Kreuzberg läuft Mitte November aus – bisher fehlt jegliche Perspektive

Anita Brown wohnt seit bald einem Jahr in der 24/7-Notübernachtung. In der Cafeteria des Hauses zeigt sie eine Zeichnung, die ihre Gefühle ausdrückt.
Anita Brown wohnt seit bald einem Jahr in der 24/7-Notübernachtung. In der Cafeteria des Hauses zeigt sie eine Zeichnung, die ihre Gefühle ausdrückt.
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Anita Brown hat ein Gedicht geschrieben. »Four walls and a roof« heißt der Titel – vier Wände und ein Dach. Langsam und ruhig liest sie es vor. »Du liegst wach im Bett, wunderst dich über dein Schicksal, an einem Ort zu wohnen mit vier Wänden und einem Dach«, so lautet eine Zeile.

Nie hätte Brown gedacht, nach diesen vier Wänden suchen zu müssen. »Ich bin Lehrerin, ich hatte einen Job, ich hatte Geld, ich hatte eine Wohnung«, erzählt sie. Und doch ist die 57-Jährige wohnungslos. Seit bald einem Jahr wohnt sie im ehemaligen »Happy Bed Hostel« am Halleschen Ufer in Kreuzberg. Anders als in regulären Notübernachtungsstellen können die Bewohnerinnen den ganzen Tag über in der Unterkunft bleiben. Sie bewohnen Einzelzimmer mit eigenen Bädern, bekommen Frühstück, Abendessen und Einzelfallbetreuung. Doch Brown und ihre 64 Mitbewohnerinnen wissen nicht, wie ihre Zukunft aussieht: Die finanzielle Förderung des umfunktionierten Hostels läuft am 14. November aus. »Wir haben alle Angst«, sagt Brown.

Die sogenannte 24/7-Notübernachtung für wohnungslose Frauen ist ein Pilotprojekt. Es entstand zusammen mit dem Projekt »Schutz und Neustart für Menschen ohne Obdach« in Mitte im Oktober 2021 als Antwort auf die Pandemie. Wohnungs- und obdachlose Menschen sollten die Möglichkeit haben, sich zu isolieren und in Lockdown-Zeiten zu Hause zu bleiben. Mehrere Kältehilfe-Einrichtungen und neu angemietete Räumlichkeiten waren bereits im Winter 2020 auf Ganztagsbetrieb umgestellt worden – darunter auch das »Happy Bed Hostel«, das von Dezember 2020 bis Juni 2021 als ganztägige Notübernachtung diente, bis die Corona-Sofortmaßnahmen des Senats ausliefen.

Doch weil sich die Idee bewährt hatte, nutzte die Linke-geführte Sozialverwaltung unter der damaligen Senatorin Elke Breitenbach 11,4 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds React-EU, um zumindest für zwei weitere Jahre den »neuen Ansatz bei der Unterbringung und Unterstützung obdachloser Menschen« zu erproben. Diesmal erlaubte die EU-Finanzierung ein erweitertes Konzept: Statt wie die Kältehilfe hauptsächlich mit Ehrenamtlichen zu arbeiten, konnte die Notübernachtung am Halleschen Ufer mit der Neueröffnung ein 20-köpfiges Team, unter anderem für Sozialberatung und psychologische Hilfe, einstellen.

Nirgendwo sonst in Deutschland gibt es ganztägig geöffnete Unterkünfte, die derart niedrigschwellig funktionieren. Hier braucht es nicht erst einen Antrag auf Unterbringung, keine Kostenübernahme und keine langwierigen Behördengänge. Wird ein Platz frei, wird er direkt vergeben. »Die bedingungslose Aufnahme ist etwas sehr Besonderes«, sagt Andrea Niemann, die Geschäftsführerin der Stiftung zur Förderung sozialer Dienste Berlin, von der die Notunterkunft betrieben wird. Sie ist überzeugt von dem Konzept ihrer Einrichtung: »Ich habe schon viele Projekte gemacht in meinem Leben, und dieses hier gefällt mir besonders gut.«

Die ganztägigen Öffnungszeiten ermöglichen es den Betroffenen, überhaupt zur Ruhe zu kommen. »Wenn du durch die Notübernachtungen tingelst, kannst du dich nicht um dein Leben kümmern«, sagt Niemann. Während sonst wohnungslose Menschen ohne Unterbringung jeden Tag aufs Neue nach einer Bleibe suchen müssten, hätten die Bewohnerinnen im »Happy Bed Hostel« Zeit, sich mit diversen Problemen auseinanderzusetzen.

Außerdem hätten die Frauen die Möglichkeit, vertrauensvolle Beziehungen zu den Sozialarbeiter*innen zu knüpfen, betont Niemanns Kollege Ivo Titze. Der Sozialberater und seine zwei Kolleg*innen konnten schon einigen ehemaligen Bewohnerinnen helfen, eine Wohnung oder Unterbringung zu finden. Eine Frau, die zehn Jahre lang ohne eigenes Zuhause gelebt hatte, wohne nun in einer Wohnung aus dem geschützten Marktsegment, erzählt er. Eine andere Klientin habe einen Platz im betreuten Wohnen gefunden, eine weitere sei mit ihrem Kind in eine Familieneinrichtung gezogen. »Jeder Fall ist individuell«, sagt Titze.

Eben deshalb müssten auch individuelle Lösungen gefunden werden. Doch das braucht Titze zufolge Zeit: »Du wartest erst mal zwei Wochen auf eine Antwort, ob dein Antrag überhaupt eingegangen ist.« Dennoch verliefen die Beratungsprozesse schneller als anderswo. Ein weiterer Vorteil des 24/7-Konzeptes, erklärt Sozialberater Titze. Denn die Beratungsangebote könnten alle in einem Haus stattfinden. Dadurch verliefen sie effizienter und seien zudem einfacher in Anspruch zu nehmen. Für Beratungstermine durch halb Berlin zu fahren, bedeute insbesondere für Bewohnerinnen mit psychischen Problemen oder mit Behinderungen eine große Hürde.

»Sie verurteilen uns mit ihren Augen für den Grund unseres langsamen Untergangs. Aber die Frauen der vier Wände und eines Dachs sind nicht gleich, sie kommen mit unterschiedlichen Geschichten hinter ihren Namen.« So geht das Gedicht von Anita Brown weiter. Ihre eigene Geschichte zeigt, wie plötzlich ein Leben zusammenbrechen kann.

Als internationale Lehrerin für Naturwissenschaften arbeitet die US-Amerikanerin in Dubai, bevor sie 2018 für einen Job nach Berlin zieht. Doch weil ihr neuer Arbeitgeber sie nicht regulär anmeldet, verliert sie ihr Arbeitsvisum, erzählt Brown. Ihr geht das Geld aus, sie muss ihre Wohnung verlassen, erfährt sexualisierte Gewalt. »Ab da ging es nur noch abwärts.« Brown hat ihre Gefühle in einer großen Zeichnung zum Ausdruck gebracht. Ein Harlekin in Lumpen tanzt in der Mitte, außen herum hat sie weinende, schreiende, zerbrochene Gesichter gemalt.

So unterschiedlich die Geschichten der Bewohnerinnen sind, die meisten haben Gewalt erlebt. Sie suchten deshalb nach einer Unterbringung nur für Frauen, sagt Geschäftsführerin Niemann. Davon gibt es in Berlin nicht genug. Durchschnittlich müsse ihre Einrichtung jeden Tag zehn Anfragen Absagen erteilen. Regelmäßig sind trans Frauen unter den Suchenden. Denn die 24/7-Notübernachtung gehört zu den wenigen Notunterkünften in Berlin, die trans Frauen dezidiert willkommen heißen.

»Ich habe mit einzelnen trans Bewohnerinnen gesprochen, die meinten, dass es vorher eine totale Katastrophe war«, berichtet Titze. Andere Stellen würden trans Frauen ohne Personenstandsänderung sogar ausdrücklich auf die Männer-Etagen schicken. Im »Happy Bed Hostel« fänden sie hingegen einen etwas geschützteren Raum. »Es gibt zwar vereinzelt Anfeindungen, und wir mussten Awareness schaffen«, sagt Titze. »Aber hier haben sie immerhin Einzelzimmer und keine Bäder, die sie teilen müssen.«

Zur Ruhe kommen, Schutz finden, im besten Fall neue Perspektiven schaffen: Titze und Niemann sind sich einig, dass die 24/7-Notübernachtung ein »notwendiges Puzzleteil« in der Wohnungslosenhilfe darstellt. Doch der 14. November rückt näher und der Senat bleibt eine Zusage weiterhin schuldig. Am Mittwoch sprach sich Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) auf nd-Nachfrage zwar für eine Weiterführung der 24/7-Notübernachtungen aus: »Die haben sich bisher sehr bewährt. Ich finde das einen guten Ansatz und setze mich dafür ein, dass es weitergeht.« Doch eine Zusage gab sie nicht: »Haushaltsverhandlungen sind immer schwierig.«

Im Sozialausschuss des Abgeordnetenhauses stand am Donnerstag schließlich die Zukunft der beiden Ganztagsangebote auf der Tagesordnung. Auch hier klang die Sozialverwaltung betont zurückhaltend. »Zu allem, was sich um den Haushalt dreht, kann ich nach heutigem Stand nichts sagen«, so Sozialstaatssekretär Aziz Bozkurt (SPD). »Nur, dass es Priorität hat.« Fest stehe, dass nach den hohen Corona-Ausgaben gespart werden müsse: »Wir werden im Haushalt viele Herausforderungen haben, beim LAF (Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, Anm. d. Red.), bei der Eingliederungshilfe. Wir kommen auf eine Summe von 300 Millionen Euro, und damit hätten wir noch nichts Neues getan.« Ein Haushaltspunkt für 24/7-Einrichtungen käme dann noch obendrauf.

Taylan Kurt, sozialpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, hält das für Ausreden: »Wer etwas will, findet einen haushalterischen Weg.« Dass die Sozialverwaltung weiterhin kein klares Bekenntnis zum Erhalt der Einrichtungen abgebe, sei ein »absolutes Armutszeugnis«. »Durch dieses Agieren sind beide Unterkünfte in Gefahr, da ihnen und den Beschäftigen die Planungssicherheit genommen wird«, so Kurt.

Schon jetzt herrscht Unruhe im Haus am Halleschen Ufer. Die Bewohnerinnen kämen nun häufiger als sonst zur Sozialberatung, um eine Perspektive für die Zeit ab November zu finden. »Es ist absurd, zu Beginn der Kältesaison stünden 65 Frauen auf der Straße«, sagt Niemann. Mit dem Ende der Finanzierung würde zudem die Immobilie wegfallen und in eine andere Nutzung übergehen. Bei einem ohnehin angespannten Markt, den die Kältehilfe jede Saison aufs Neue nach Objekten durchforstet, ein fataler Verlust, findet die Geschäftsführerin der Stiftung zur Förderung sozialer Dienste. »Alle wollen, dass das Projekt weitergeht. Aber wenn der Haushalt erst im Dezember beschlossen wird, haben wir ein Problem.«

Auch Anita Brown hätte ein Problem. »Um ehrlich zu sein: Ich denke, ich würde auf der Straße landen«, sagt sie mit Blick auf ein mögliches Ende. Wenn schon die Politik nicht einspringe, könnte doch vielleicht ein Unternehmen das Projekt retten, überlegt sie. »Es wäre einfach eine Schande, wenn es am Geld scheitert.«

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