Kontingent-Lösungen sind gescheitert

Widerspruch zu Frei-Vorstoß: Expert*innen erinnern an historischen Ursprung des individuellen Rechts auf Asyl

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Asylrecht in Europa steht derzeit von allen Seiten unter Beschuss. Zuletzt hat Thorsten Frei, erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in einem Gastbeitrag für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« dafür plädiert, das Recht des einzelnen Menschen, auf europäischem Boden Asyl zu beantragen, abzuschaffen. Darin sieht er den »Konstruktionsfehler« des europäischen Asylsystems.

Frei schreibt: »Wir machen uns mit Autokraten gemein, damit sie Menschen von unseren Grenzen fernhalten, und sehen weg, wenn Staaten zu illegalen Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen schreiten.« Das würden wohl auch viele Linke unterschreiben. Doch seine Schlussfolgerung ist eine andere: Weil die EU nicht willens ist, den Rechtsanspruch auf individuelles Asyl durchzusetzen, fordert der Unionspolitiker, diesen abzuschaffen. Stattdessen sollen Kontingente geschaffen werden, bei denen 300 000 bis 400 000 Flüchtlinge pro Jahr direkt im Ausland ausgewählt und dann in Europa verteilt werden. Frei argumentiert: »Unser Asylrecht richtet sich durch seine Ausgestaltung nicht an die Schwächsten, sondern trifft eine zutiefst inhumane Auswahl: Wer zu alt, zu schwach, zu arm oder zu krank ist, ist chancenlos.«

»Diese Argumentation klingt plausibel, aber es sind insbesondere Maßnahmen der EU, die eine Überfahrt so schwierig machen«, sagt Constantin Hruschka, leitender Forschungsbeauftragter am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München und Mitglied im Rat für Migration, im Gespräch mit dem »nd«.

Der Zusammenschluss von 220 Migrationswissenschaftler*innen aus dem deutschsprachigen Raum kritisiert den Vorstoß des Unionspolitikers vehement. Er verkenne, dass das individuelle Asylrecht eine historische Konsequenz aus dem Scheitern von Kontingent-Lösungen sei. Im Zweiten Weltkrieg schlossen viele europäische Staaten ihre Grenzen für Flüchtlinge, darunter deutsche Jüd*innen und andere politische Verfolgte des NS-Regimes, und erlaubten allenfalls kleinen Kontingenten die Einreise. »Eine Abschaffung dieses Rechts und eine Rückkehr zu Kontingent-Lösungen, wie sie vor dem zweiten Weltkrieg existierten, ist nicht geeignet, einen wirksamen Flüchtlingsschutz im 21. Jahrhundert zu ermöglichen«, so der Rat für Migration.

Auch die fluchtpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Clara Bünger, zeigt sich entsetzt: »Dass der CDU-Politiker Thorsten Frei nun fordert, diese zivilisatorische Errungenschaft über Bord zu werfen, ist geschichtsvergessen und offenbart, wie weit seine Partei sich nach rechts bewegt hat.« Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen beende man nicht, »indem man Asylsuchenden die letzten Rechte nimmt, die sie noch haben«, so Bünger.

Seitens der Union erhielt Frei Zuspruch. Parteikollege Jens Spahn hatte schon im Mai die Genfer Flüchtlingskonvention hinterfragt. Für eine Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl müssten alle EU-Staaten aus der Genfer Flüchtlingskonvention austreten, so der Rat für Migration. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Alexander Throm (CDU), sagte der Deutschen Presse-Agentur, Frei habe zu Recht darauf hingewiesen, »dass unser Migrationssystem derzeit völlig falsche Zustände verursacht«. Die CSU erklärte, man wolle sich lieber auf Maßnahmen konzentrieren, die den Zuzug von Migrant*innen kurzfristig senken.

Die Bundesregierung will am individuellen Anspruch auf Asyl nicht rütteln. Regierungssprecher Steffen Hebestreit antwortete am Mittwoch in Berlin auf eine entsprechende Frage eines Journalisten: »Solche Überlegungen sind mir innerhalb der Bundesregierung nicht bekannt und würden mich auch überraschen.« Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums verwies darauf, dass es die Aufnahme von Flüchtlingen über Kontingente und das sogenannte Resettlement bereits gibt. »Mit größeren Kontingenten verlagert man das Problem der Auswahl, ohne es zu lösen«, kommentiert der Forschungsbeauftragte Hruschka. Er betont außerdem, dass eine Flucht oftmals kollektiv vorbereitet werde. »Die Familie entscheidet, wer die größte Chance hat, nach Europa zu fliehen und dort eine Arbeit zu finden, um die Familie finanziell zu unterstützen. Diese komplexen Realitäten müssten aufgearbeitet werden, bevor man eine Lösung vorschlägt.«

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