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Ostler und Westler: Unterschiede noch in 100 Jahren?

Das Potsdamer Kunsthaus »Minsk« beschäftigt sich mit Fragen »ostdeutscher Identität«

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 5 Min.

Ostdeutsche, die unter 40 Jahre alt sind, haben vom Leben in der DDR nicht mehr viel mitbekommen, zumindest nicht aus erster Hand. Aber die Erfahrungen und Folgen der innerdeutschen Trennung beschäftigen nach wie vor auch jüngere Generationen. Bei einem Podiumsgespräch im Potsdamer Kunsthaus »Minsk« verständigten sich jüngst drei Ostdeutsche zwischen Ende 20 und Mitte 50, alle mit einem akademischen Hintergrund, zum Thema »Narben«. Laut Ankündigung sollte es um »ostdeutsche Identitätsfragen« gehen.

Aljoscha Begrich, Moderator des Podiums, Jahrgang 1977, gestaltet beruflich ein ostdeutsches Festival in Bitterfeld-Wolfen und fordert dazu auf, einen neuen »Bitterfelder Weg« zu suchen und ihn mit den Themen der Gegenwart zu pflastern. Er stammt aus Sachsen-Anhalt und erzählte, dass junge Ostdeutsche nach 1990 mit ihrer Identität rangen: »Leute meines Alters taten so, als würden sie nicht aus dem Osten kommen.« Und Menschen aus Sachsen hätten versucht, ihren verlachten Dialekt zu verbergen und sich einen Knoten in die Zungen gemacht, wie es im weiteren Gesprächsverlauf zur Sprache kommt.

Dazu passt, was die in Leipzig aufgewachsene Journalistin Jana Hensel in ihrem 2002 veröffentlichten Buch »Zonenkinder« schrieb: »Wofür man mich hielt? In den letzten Jahren immer häufiger für einen Westler. Ich hatte meine Lektion gelernt.« Hensel hatte eigentlich ebenfalls am Podium teilnehmen sollen, begleitete aber an dem Abend Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck (beide Grüne) auf einer Reise durch Sachsen-Anhalt.

Er habe ursprünglich gar nicht vorgehabt, »mental in die muffige DDR zurückzukehren«, räumt der 1968 in Rostock geborene Soziologe Steffen Mau ein. Aber dann habe er mit seinem Buch »Lütten Klein« 2019 das Thema für sich entdeckt. Den Übergang der DDR-Gesellschaft in die heutige »ostdeutsche Identität« nannte Mau »das interessanteste soziale Experiment, das man sich vorstellen kann.«

Um eine gerechte Beurteilung der Ostdeutschen und ihrer Besonderheiten zu erreichen, sollte man sich ihm zufolge einen wichtigen Unterschied vor Augen halten: Die Einführung der Demokratie nach US-Vorbild in Westdeutschland war erfolgreich, weil sie verbunden war mit einem Wirtschaftsboom und dem Erlebnis zunehmenden Reichtums – während in Ostdeutschland die Wiedereinführung der bürgerlichen Demokratie nach 1990 begleitet wurde von Absturzerlebnissen und Verlusterfahrungen für Millionen Menschen.

Für die 1996 geborene und in Prenzlauer Berg aufgewachsene Kulturwissenschaftlerin Judith Rinklebe ist die Einheitlichkeit der Ostdeutschen eine Legende. So habe es beispielsweise zu DDR-Zeiten viele Beziehungen, Kontakte und Ehen zwischen Ostdeutschen und Menschen aus den damaligen »Bruderländern« gegeben. Mit der Binnenmigration nach 1990 sei ohnehin eine neue Lage geschaffen worden, sagt die Mitherausgeberin von »Possi«, einem »Magazin für (post-)ostdeutsches Empowerment«.

Ihr Studium der Kulturwissenschaft in Hildesheim sei toll gewesen, sagt Judith Rinklebe, aber zur Debatte gestanden habe »nur westdeutsche Kulturpolitik«. Und viele ihrer Kommilitonen »kannten den Unterschied zwischen dem 9. November und dem 3. Oktober nicht«.

Zu den merkwürdigen Phänomenen der Gegenwart gehörte für die Teilnehmer
der Gesprächsrunde, dass Westdeutsche in der Regel überzeugt davon sind, dass es »keine Unterschiede« mehr zwischen West- und Ostdeutschen gebe, während in Ostdeutschland eine völlig andere Meinung dazu dominiere. Kulturwissenschaftler Begrich zitierte einen Intendanten des Maxim-Gorki-Theaters, dem zufolge das Ost-West-Thema »auserzählt« sei.

Steffen Mau, der an der Berliner Humboldt-Universität lehrt, verwies darauf, dass die Flaggschiffe des westdeutschen Journalismus wie die »Zeit«, der »Spiegel« oder die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« auch nach über 30 Jahren im Osten auf äußerst geringe Resonanz stoßen. Bezogen auf die innenpolitische Entwicklung der vergangenen Jahre warnte er davor, »alles Rechte in den Osten abzuschieben«.

Der Rückblick auf die DDR-Zeit insgesamt? Gespalten. Kulturwissenschaftlerin Rinklebe sprach von »Erinnerungskonkurrenz«. Kurz angerissen wurde von den drei Rednern, ob die heutige Form der institutionalisierten Geschichtsaufarbeitung angemessen und wünschenswert sei. Rinklebe warf die möglicherweise notwendige »Aufarbeitung der Aufarbeitung« in die Debatte.

Mau nahm eine Kluft zwischen einer formelhaften und entleerten offiziellen Geschichtsbetrachtung und der privaten Erinnerung vieler Menschen wahr. Mit Blick auf die Entwicklung in den vergangenen drei Jahrzehnten ist für ihn nicht mehr ausgeschlossen, dass es »noch in 100 Jahren« Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland geben wird – »sicherlich verändert oder gebrochen oder in anderer Form vielleicht«.

Vor mehr als zwei Jahrzehnten hatte Jana Hensel verkündet: »Schon ist zu spüren, dass die nächsten zehn Jahre ruhiger werden, dass das Gröbste hinter uns liegt.« Ihre Elterngeneration hatte die heute 47-Jährige in »Zonenkinder« beschrieben als »Sitzenbleiber einer Epoche, die sich gerade erledigt hat«. Und weiter: »Wir gestanden unseren Eltern nicht, dass uns die fünf neuen Länder in ihrer Banalität und Hässlichkeit auf die Nerven gingen.« Begrich, Mau und Rinklebe erklärten 20 Jahre später übereinstimmend, mit ihren Müttern und Vätern »solidarisch« sein zu wollen.

Zu diesem Thema ergriff dann auch Brandenburgs Kulturministerin Manja Schüle (SPD) das Wort. Sie selbst stamme aus Frankfurt (Oder) und entsinne sich sehr gut der Sprachlosigkeit der Elterngeneration, »die für uns keine Vorbilder mehr sein konnte«. Schüle, wie Hensel Jahrgang 1976, empfahl ihrer Generation, den Eltern zu erklären, »wie man angekommen ist«. Bezogen auf Ost-West-Unterschiede und die Rechtsentwicklung im Osten war die Ministerin nicht misszuverstehen: »Mir ist Niedersachsen näher stehend, als Sachsen es jemals sein könnte.«

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