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Sozialisierung ist eine Tätigkeit!

Seit dem Erfolg von Deutsche Wohnen & Co enteignen wird nicht nur in Berlin heiß über Vergesellschaftung debattiert. Aber was ist eigentlich darunter zu verstehen?

  • Felix Klopotek
  • Lesedauer: 12 Min.
Ganz Berlin hasst die Deutsche Wohnen? Zumindest in einigen Bezirken kann das so erscheinen. Hier ein Soli-Transparent an einem Kreuzberger Wohnhaus, Juli 2022
Ganz Berlin hasst die Deutsche Wohnen? Zumindest in einigen Bezirken kann das so erscheinen. Hier ein Soli-Transparent an einem Kreuzberger Wohnhaus, Juli 2022

Vor anderthalb Jahren antwortete der Berliner Senat bekanntlich auf den erfolgreichen Volksentscheid für die Enteignung großer Wohnungsunternehmen mit einer Expertenkommission. Jede Aktivistin, jeder Aktivist der Enteignungsbewegung muss das als Hohn empfunden haben. Ein überwältigendes Abstimmungsergebnis, ein damals doch linker Senat, eine druckvolle Bewegung auf der Straße – und am Ende: die kalte Antwort der Bürokratie, ein böser Schachzug der Giffey-SPD. Aber Ende Juni dieses Jahres kam die Überraschung. Die Kommission entschied, für viele Beobachter überraschend, im Sinne der Initiator*innen des Volksentscheids: Die Vergesellschaftung von privatem Eigentum ist rechtlich vertretbar.

Ob die Berliner Enteignungsbewegung, die schon wenige Wochen nach dem Abstimmungssieg im Herbst 2021 nahezu eingeschlafen war und sich zuvor bereits für Außenstehende als zerstritten präsentierte, dadurch neuen Schwung gewinnt? Ein direkter Effekt für Aktionen auf der Straße, gar ein Impuls für Mieter*innenstreiks, die den Prozess der Vergesellschaftung beschleunigen sollen, ist durch das Gutachten nicht zu erwarten. Denn selbstverständlich beansprucht der mittlerweile von CDU und SPD geführte Senat die Deutungshoheit über die Arbeit der Kommission und wird alles dafür tun, die Wohnungsfrage weiterhin ausschließlich parlamentarisch-bürokratisch zu bearbeiten.

Die außerparlamentarische Linke wird also im Off bleiben – und sollte dies als Chance begreifen, zumindest auf theoretischem Gebiet eine Aufarbeitung grundsätzlicher Fragen zu leisten. Zum Beispiel: Was genau wäre eigentlich Vergesellschaftung abseits der Hoffnung auf günstige, nicht mehr ans »Marktgeschehen« gebundene Mieten? In einer Grundsatzdebatte hilfreich sein könnte eine längst vergessene Schrift, die 1921 erschien und genau das für sich beanspruchte: die Aufarbeitung der grundsätzlichen Frage, was das überhaupt sei – Sozialisierung. Autor der schlicht »Sozialisierung« betitelten Schrift war Felix Weil, er hatte sie 1920 in Tübingen als Promotion bei Professor Robert Wilbrandt eingereicht; zu Wilbrandt später.

Links von der Frankfurter Schule

Zur Person Weil: Der Name lässt in diesen Monaten hellhörig werden, er zirkuliert wieder und ist mit der Geschichte der Kritischen Theorie eng verbunden. Denn der Millionärserbe und Kommunist Felix Weil (1898–1975) war die treibende Kraft bei der Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Er hatte im Mai 1923 die Marxistische Arbeitswoche mitinitiiert, war zu dem Zeitpunkt sehr eng mit Karl Kirsch, dem eigentlichen Mentor seiner Promotion, befreundet, später verband ihn eine lebenslange, recht komplizierte Freundschaft mit Max Horkheimer und Friedrich Pollock – aber auch mit dem legendären Verleger Wieland Herzfelde.

Im Berlin der 1920er und frühen 30er Jahre war Weil Mäzen in linken Lebenswelten, faktisch gehörte ihm der Malik Verlag, und dass das Institut für Sozialforschung in den 30er und 40er Jahren finanziell überlebte, ist zu guten Teilen seinem Vermögen und seinem buchhalterischen Geschick zu verdanken. Das alles ist bekannt, nicht zuletzt weil der Heidelberger Historiker Hans-Peter Gruber im letzten Herbst mit »Aus der Art geschlagen« eine tiefschürfende Biografie vorgelegt hat, die ausführlich aus unveröffentlichten Texten Weils zitiert. Trotz seiner Verdienste um das Institut für Sozialforschung war Weil in der offiziösen Geschichte der Kritischen Theorie stets bloß eine Randfigur – und ist es noch heute. Der Grund: Er hat kein theoretisches Werk hinterlassen, jedenfalls keines, das in Quantität und Kontinuität mit dem Horkheimers, Adornos oder Marcuses vergleichbar wäre.

Dass das jedoch eine verzerrte Sichtweise ist, zeigt Gruber in seiner Weil-Biografie. Die Verzerrung rühre daher, dass die einschlägigen Institutsgeschichten etwa von Rolf Wiggershaus oder Martin Jay noch zu ideengeschichtlich orientiert sind und nicht so sehr materialistisch-konkret die institutionelle Arbeitsweise des Instituts in den Mittelpunkt rücken. Gruber arbeitet weiterhin heraus, dass Weil in den ersten Jahrzehnten sehr wohl in alle inhaltlichen Debatten eingebunden war und sein Urteil Gewicht hatte. Horkheimer und Adorno hätten ihn gerne als Mitarbeiter an ihrem Manuskript dabei gehabt, das später unter dem Titel »Dialektik der Aufklärung« erschien. Weil hatte schon in den 30er Jahren den »Qualitätssprung« des nationalsozialistischen Antisemitismus erfasst, der auf umfassende Vernichtung zielte, und dafür plädiert, die Erforschung des modernen Antisemitismus in den Mittelpunkt der Institutsarbeit zu stellen.

Der Biograf Gruber fokussiert sich seinerseits auf die Autobiografie Weils, insbesondere dessen durchaus häretische Darstellung der Institutsgeschichte, in der er Horkheimer & Co von links, von einem dezidiert sozialistisch-marxistischen Standpunkt kritisierte. Eine vermutlich abschließend lektorierte Fassung dieses Manuskripts ist verschollen, sodass sich Gruber nur auf Vorstufen von unterschiedlicher literarischer Güte stützen kann. Auf deren Veröffentlichung oder besser Rekonstruktion werden wir noch länger warten müssen. Und so bleibt Weil als Denker weiter ein Unbekannter.

Schaut man sich die wenigen von Weil selbst veröffentlichten Schriften an, darunter an erster Stelle die Sozialisierungsschrift, muss man den Historiker*innen allerdings recht geben: Theorie wird dort nicht mit großem »T« geschrieben. Weil schreibt Berichte, widmet sich betont kühl seinem Gegenstand, will sich nicht in die Höhen der spekulativen Arbeit am Begriff aufschwingen. Seine Promotion ist ostentativ nüchtern gehalten, weist alle politischen Implikationen zurück. Es soll ein »rein wissenschaftliches« Werk sein, und selbst als solches ist die Promotion maximal zurückhaltend: Eigentlich, schreibt Weil, referiere er nur die einschlägige Literatur zur Sozialisierung, fasse sie zusammen und ziehe sehr behutsam einige Schlüsse daraus.

Man muss dazu anmerken, dass Weil an der Tübinger Universität bekannt war, gar berüchtigt. 1919 wechselte er von Frankfurt nach Tübingen, schloss sich umgehend der Sozialistischen Studentengruppe Tübingen an und war wohl bald bei deren linksradikaler Abspaltung Freie Vereinigung sozialistischer Studenten aktiv. Dass Weil seine Abschlussarbeit als so nüchtern und trocken wissenschaftlich ausgibt, könnte auch daran gelegen haben, dass er seinen Gegnern in der Universitätsverwaltung keinen Vorwand liefern wollte, seine Promotion zu sabotieren.

Sozialisierung kann viel bedeuten

Tatsächlich ist Weils Arbeit »Sozialisierung« hochpolitisch, einfach dadurch, dass er die unterschiedlichen Vorstellungen, was wir unter Sozialisierung zu verstehen haben, geduldig sortiert und in dem Zuge klar macht, dass es streng genommen nur einen einzigen Inhalt der Sozialisierung geben kann, der nicht kapitalkonfom ist beziehungsweise von der Dynamik des Kapitalismus wieder eingeholt und aufgehoben werden kann. Gerade dieser Schluss Weils ist für heutige linke Diskussionen um Vergesellschaftung von Interesse. Also zur Sache!

Ganz allgemein gesagt bedeutet Sozialisierung »Eigentumsübertragung an die Gesellschaft«. Weil stellt nun allerdings fest, dass mit dieser Definition noch nichts gewonnen ist. Nicht gesagt ist damit nämlich: An welche Gesellschaft wird das Eigentum übertragen? Wer überträgt es, wer ist also das Subjekt der Sozialisierung? Wie umfassend ist die Übertragung? Karl Korsch gab Weil in einer privaten Mitteilung, die dieser zitiert, einen ersten Hinweis: »Der begriffliche Unterschied zwischen ›Sozialisierung‹ und ›Vergesellschaftung‹ scheint mir ein zweifacher zu sein. Erstens drückt ›Sozialisierung‹ die Vergesellschaftung im Sinne des Sozialismus aus (im Gegensatz zu den staatssozialistischen Ideen). Zweitens ist ›Sozialisierung‹ aktiver gemeint als ›Vergesellschaftung‹. Diese letztere meint mehr den marxistischen Prozess, die erstere mehr unsere zielbewussten Handlungen.«

Korsch vollzieht hier eine für uns heute erstaunliche Unterscheidung, die nur zu erklären ist mit dem damaligen Status der marxistischen Theorie. Diese war nämlich zu jenem Zeitpunkt noch die offizielle Parteiideologie der Sozialdemokratie; die SPD ging von einem quasi-naturwüchsigen Prozess des Hineinwachsens in den Sozialismus aus – verstanden als Vergesellschaftung. Der von ihr in Beschlag genommene historische Materialismus war die ideologische Begründung dieses Prozesses, eine Legitimation, nicht aktiv revolutionär in diesen Prozess einzugreifen, denn »die Geschichte steht ja auf unserer Seite«. Das könne nur zu Bolschewismus und Syndikalismus (Anarchismus) führen, also zu Chaos.

Es war nach der parlamentarisch zurechtgestutzten Novemberrevolution von 1919 keine Selbstverständlichkeit, sich als revolutionärer Sozialist und zugleich als Marxist zu verstehen. Weils Doktorvater Wilbrandt sprach denn auch vom »aufbauenden, neben dem kritischen, praktischen, neben dem theoretischen, kurz vom schaffenden Sozialismus, der die Welt nicht mehr interpretiert, sondern ändert«. In dieser theoretischen Fluchtlinie verstand Weil Sozialismus als praktischen, eingreifenden und Sozialisierung als Tätigkeit (in Abgrenzung zur gemächlichen Vergesellschaftung), als Ausdruck neugewonnener proletarischer Subjektivität, die sich in den Räten personifizierte. Denn die Räte waren aus dem Aufstand geboren: aus der Meuterei in Heer und Marine und den Betriebsbesetzungen – die es in der Novemberrevolution allerdings so gut wie nicht gab; die spontane Sozialisierung der Kieler Torpedowerften war die große Ausnahme.

Von der praktischen proletarischen Intervention grenzt Weil »die substantivische Auffassungsreihe« der Sozialisierung ab. Gemeint sind jene staatssozialistischen bis nationalkonservativen Vorstellungen, wonach Sozialisierung Ziel eines politischen Prozesses sei, der »von oben«, also vom Staat ausgehe und vermittelt über die staatstragenden Parteien und die Bürokratie initiiert würde. In dieser Hinsicht trafen sich tatsächlich rechte Sozialdemokraten mit der Obersten Heeresleitung, Gewerkschaftsführern und Kapitalmagnaten wie Walter Rathenau.

Paradigma dieser Art von Sozialisierung war die Entwicklung der deutschen Kriegswirtschaft nach 1916: Die habe es, so Weil, »fertig gebracht, daß schwierigste, früher für unmöglich gehaltene Maßnahmen durch militärische Verordnungen über Nacht plötzlich durchgeführt wurden und – zur größten Verwunderung aller – auch funktionierten. Riesenorganisationen wurden in wenigen Wochen, ja Tagen, sozusagen aus dem Boden gestampft. Ein Rad griff in das andere, die ganze ›militarisierte‹ Wirtschaft wickelte sich nach bestimmtem Plane ab. Eine bedeutende Rolle spielten in diesen Organisationen bereits die sozialistischen Körperschaften.« Letztere wirkten systemstabilisierend – im Klartext: kriegsverlängernd – mit, waren Teil jenes Kartells aus Oberster Heeresleitung und Kapitalisten, das Deutschland de facto ab 1916 regierte.

Der Kern von Weils Untersuchung ist: Sozialisierung – oder Vergesellschaftung – ist kein Wert an sich. Sie kann beispielsweise den Zwecken der Nation in der mörderischen imperialistischen Staatenkonkurrenz dienen und nimmt dann den Charakter der Kriegswirtschaft an. Einzelinteressen bestimmter Kapitalgruppen werden ausgeschaltet, die Verwaltung wird auf zentralistische Planung ausgerichtet, die offizielle Arbeiterbewegung eingebunden – nicht zuletzt, um in den Betrieben renitente Proleten besser kontrollieren zu können. Sozialisierung in einem proletarischen, heute sagt man wohl vorsichtiger radikaldemokratischen, Sinne hingegen setzt den Eingriff »von unten« voraus, den praktischen Sozialismus, der zu seiner Tätigkeit selbstbewusst steht. Sie manifestiert sich im Aufstand und der Betriebsbesetzung.

Es gibt keinen Kriegssozialismus

Gründungsfoto der Freien Vereinigung sozialistischer Studenten (1893), in deren deutscher Abteilung Felix Weil später aktiv war.
Gründungsfoto der Freien Vereinigung sozialistischer Studenten (1893), in deren deutscher Abteilung Felix Weil später aktiv war.

Tatsächlich hob die Kriegswirtschaft den Kapitalismus nicht auf: »Schon gegen Kriegsende zeigte es sich, dass dieses, manchmal fälschlich mit ›Kriegssozialismus‹ bezeichnete System auf die Dauer nicht haltbar ist«, schreibt Weil. »Es mehrten sich die Fälle, besonders im letzten Stadium des Krieges, wo die Fabriken sich nicht mehr an die von den Zentralstellen – Heeresbehörden, Kriegsgesellschaften –, die allein die Gesamtwirtschaft zu überschauen imstande waren, für die Produktion aufgestellten Richtlinien und Vorschriften hielten, sondern – nur ihrem eigenen Vorteil folgend – begannen, das zu produzieren, was ihnen größere Gewinnmöglichkeiten zu bieten schien, ohne Rücksicht darauf, ob es volkswirtschaftlich nötig war oder nicht.« Am Ende setzte sich zuverlässig das gesellschaftliche Privatinteresse der Monopole durch – und zwar auf einem ungleich höheren, konterrevolutionären Niveau. So gelang es den Monopolen doch, die Arbeiter*innenbewegung über die Einflusskanäle der Sozialdemokratie und Gewerkschaften zu integrieren.

Selbstverständlich war das Ergebnis von Weils Untersuchung, wenn auch im Gewand universitärer Nüchternheit, gegen die 1920/21 noch recht selbstsicher herrschende Sozialdemokratie gerichtet. Diese verkenne die Ideologie der Kriegswirtschaft als genuin kapitalistisch, woraus die »merkwürdige Inkonsequenz der reformistischen Theorie« der regierenden Sozialdemokraten folge: »In programmatischen Kundgebungen wird für die Bekämpfung des Kapitalismus, für baldige Sozialisierung eingetreten, gleichzeitig aber wird von maßgebender Stelle ausgeführt, dass der Kapitalismus ›heute noch nicht abgeschafft‹ werden kann, dass er ›vorläufig‹ noch nötig sei, um erst einmal die zusammengebrochene Wirtschaft wieder aufzurichten, dann aber soll er schleunigst beseitigt werden. Diese Theorie scheint anzunehmen, dass den Vertretern des Kapitalismus die Absichten der Sozialisten unbekannt blieben, dass er jedenfalls keine Vorkehrungen zu seinem Schutze treffe.«

Konkret: Vorkehrungen wie Aussperrungen einerseits, Integration der Gewerkschaften in die sogenannte Sozialpartnerschaft andererseits. Noch ein weiteres Mal kam Weil in einem größeren Text auf die Fragen der Sozialisierung zurück. 1938 veröffentlichte er in der »Zeitschrift für Sozialforschung« den vordergründig unscheinbaren Bericht »Neuere Literatur zur deutschen Wehrwirtschaft«. Von einer proletarischen Perspektive ist in dieser Studie nicht mehr die Rede, die deutsche Arbeiterbewegung war ja restlos zerschlagen, dafür aber viel von der anderen Seite der Sozialisierung, nämlich der staatlichen und monopolkapitalistischen.

Das Konzept der »Wehrwirtschaft« ist ein Produkt der nationalsozialistischen Ideologie, welches die »totale Mobilmachung aller seelischen, sittlichen, körperlichen, geistigen, wirtschaftlichen und technischen Kräfte der ganzen Volksgemeinschaft« erfordert, wie Weil den NS-Ideologen Richard Thoma zitiert. »Ein derartiges Ziel«, schreibt Weil weiter, »das unter dem Gesichtspunkt der Theorie vom ›totalen Krieg‹ aufgestellt worden ist, muss beim Versuch seiner Verwirklichung Anstrengungen zur planmäßigen Regulierung des ganzen gesellschaftlichen Lebens und damit die Schaffung eines großen, besonderen Beamtenapparats nach sich ziehen.« Dadurch entstehe abermals der, wenn man so will, reale Schein einer Sozialisierung, die in Wahrheit im Dienst der Volksgemeinschaft steht, nicht der Arbeiter*innenbewegung. Sozialisierung ohne Arbeiter*innenbewegung gleich Faschismus: Ist das also die Formel? Nein, sie wäre verkürzt, säße einem Schein auf: »Die Wehrwirtschaft bleibt insofern völlig auf dem Boden der überkommenen Wirtschaftsordnung stehen, als sie danach trachtet, den Eigentümern von Produktionsmitteln im Prinzip ihr Eigentum und, wenn das nicht möglich ist, ein geldwertes Äquivalent zu garantieren.«

Dennoch – der reale Schein einer Sozialisierung von oben hat immer wieder auch linke Kräfte angezogen und geblendet. Und damit wären wir wieder beim Ausgangspunkt dieses Artikels. Eine Kommission wie die des Berliner Senats 2023, die sich für die Sozialisierung oder eben Vergesellschaftung ausspricht, hat es in Deutschland schon früher gegeben: Im November 1918 berief der Rat der Volksbeauftragten die »Kommission zur Vorbereitung der Sozialisierung der Industrie« ein. Sie war hochkarätig besetzt – vor allem sozialdemokratisch und linksbürgerlich: Geleitet wurde sie von Karl Kautsky, der bis 1914 als legitimer Erbe und offiziöser Exeget von Marx und Engels galt, Mitarbeiter waren unter anderem Rudolf Hilferding, der führende Ökonom der SPD, und Joseph Schumpeter. Auch Felix Weils Doktorvater Wilbrandt taucht hier auf und mit ihm sein junger Assistent Karl Korsch, der für die Kommission visionäre Sozialisierungsprogramme schrieb.

Die Arbeit der Kommission wurde von der staatlichen Bürokratie und rechten Sozialdemokraten massiv behindert, was dazu führte, dass die Mitglieder im April 1919 aus Protest ihre Arbeit niederlegten. Das von der Kommission bereits vorbereitete, sogar verabschiedete Gesetz zur Sozialisierung des Kohlebergbaus wurde von der SPD nie umgesetzt. Selten hat eine Partei ihren führenden Theoretiker und Programmatiker, in diesem Fall Karl Kautsky, dermaßen als harmlosen Schönwetterdenker vorgeführt. Ein entsprechend vernichtendes Urteil über die Staatsgläubigkeit einer Generation von Marxisten fällt Weils Schrift »Sozialisierung«, camoufliert als brave Abschlussarbeit. Was wir mit dieser, natürlich längst historischen Schrift heute anfangen? Weil hätte gesagt: Das ist eine praktische Frage – und die müsst ihr schon selber entscheiden.

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