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Kein Klassenkampf ohne die »Lumpenposition«

Welche Rolle spielen gelebte Erfahrungen von Marginalisierung und Repression im politischen Handeln? Ein Gespräch mit D Hunter über die Bedeutung von subproletarischer Herkunft, soziale Mobilität und nervige Marxisten

Limerick, Irland, 2019
Limerick, Irland, 2019

In der deutschen Ausgabe Ihres Buches »Auf uns gestellt« werden Sie als jemand vorgestellt, der in eine Familie von Irish Travellers geboren wurde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten Menschen in Deutschland noch nie etwas von dieser Community gehört haben. Könnten Sie die ein wenig vorstellen?

Na klar. Die Irish Traveller sind eine ethnische Kulturgruppe, die oft in Fahrzeugen lebt, sei es ein Wohnwagen, ein Wohnmobil oder etwas Ähnliches, in großen Gruppen von 10 bis 100 Personen. Einige sind praktizierende Katholik*innen, für andere ist das weniger wichtig. Einige gehen einer geregelten Arbeit nach, andere nicht, einige sind stärker in die Zivilgesellschaft eingebunden als andere. Die Identität und die Erfahrungen der Irish Travellers sind nicht homogen, aber es gibt doch Gemeinsamkeiten in allen Bereichen. Die Community hat eine lange und komplexe Geschichte: Sie wurde von Großbritannien kolonialisiert und war im vergangenen Jahrhundert sowohl britischer als auch irischer Staatsgewalt ausgesetzt. Vormals lebten die Traveller in der Allmende – einem von der Dorfgemeinschaft bewirtschafteten Gemeindegut, wie ja einst alle Menschen – und in vielerlei Hinsicht ist ihre/meine Kultur eine Fortsetzung davon. Der bürgerliche Staat macht diese Lebensweise durch seine Gesetze immer schwieriger, hegt sie immer weiter kapitalistisch ein.

Was genau bedeutet das für die Klassenposition der Irish Travellers in der Gegenwart?

Am häufigsten werden die Traveller mit dem »Lumpenproletariat« in Verbindung gebracht. Es gibt allerdings Ausnahmen, die den Weg in die respektable Arbeiter*innenklasse gefunden haben. Einige sind sogar in die Sphären der Wissensproduktion eingetreten, sei es in der Wissenschaft oder anderswo.

So wie Sie selbst?

Genau, so wie ich selbst. Aber ich gehöre damit zu einer wirklich, wirklich winzigen Minderheit. Überwiegend befinden sich die Irish Traveller am unteren Rand der Arbeiterklasse und werden durch Prozesse der Rassifizierung noch weiter ausgeschlossen.

Sie sprachen das Marx’sche Konzept des Lumpenproletariats an: die Behauptung, dass die Bevölkerungsgruppe, die noch »unterhalb« des Proletariats ihr Überleben sichern muss, für den Klassenkampf verloren sei, ihn gar sabotiere. Das ist offensichtlich ein höchst problematischer, sozialchauvinistischer Blick auf kapitalistisch produzierte Armut. In der Einleitung zu Ihrem Buch, die eher eine theoretische Rahmung ist, schreiben Sie, Sie fänden Marxist*innen »nervig«. Aber der Begriff der Klasse, der ja auch im Marxismus zentral ist, steht trotzdem im Zentrum Ihres aktuellen Buches.

Vorweg gesagt: Mich nervt die Mehrheit der linken sozialen Bewegungen zu Tode. Aber die Weigerung vieler orthodoxer Marxist*innen, die problematische Natur des Begriffs Lumpenproletariat anzuerkennen, frustriert mich besonders. In vielen Gesprächen, die ich in marxistischen Kontexten geführt habe, wurde der Begriff verwendet, um jegliches revolutionäre Potenzial der Gemeinschaft abzutun, aus der ich selbst komme. Der Grund, warum ich das Wort »Genervtheit« und nicht »Abscheu« oder »Hass« verwende, ist, dass ich diese problematische Position in der Prekarität einer politischen Haltung verwurzelt sehe, die sich in ihrer Verzweiflung an eine vulgarisierte, eine vereinfachte Interpretation des Marx’schen Werkes klammert. Das ist schlicht ein Ärgernis, wie ein trotziges Kind.

Gleichzeitig denke ich aber, dass es auch ein bisschen unfair ist, alle Marxist*innen über einen Kamm zu scheren. Die marxistischen Organisationen im Vereinigten Königreich haben viel Potenzial, aber wenn sie bloß Dogmen vertreten und bestimmte Lesarten von Texten als sakrosankt behandeln, schränken sie ihre Relevanz selbst ein.

In der Methodologie Ihres aktuellen Buches führen Sie neben den marxistischen Kategorien weitere Konzepte ein: Auto-Ethnographie, Queere Narration, Critical Whiteness ...

... und Abolitionismus ...

... und auf diese methodische Einführung folgen elf Essays, die sehr persönliche Geschichten aus Ihrem Leben erzählen. In welchem Verhältnis stehen die beiden Teile zueinander?

Es gibt bestimmt zwanzig verschiedene Antworten, die ich auf diese Frage geben könnte. Aufgrund dessen, was ich heute Morgen gelesen habe, kommt mir spontan Folgendes in den Sinn: Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber hier in Großbritannien gibt es viele Gespräche über die Relevanz von Lebenserfahrung im politischen Aktivismus. Ich finde die Idee, politische Schlussfolgerungen allein aus Theorie zu ziehen, zwar nicht direkt bescheuert, aber doch waghalsig, irgendwie undurchdacht und vielleicht auch unangemessen. Es ist wichtig, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden. Und diese beiden Dinge in einer gemeinsamen Diskussion zusammenzubringen, ist sogar noch wichtiger.

In meinem ersten Buch, das nicht ins Deutsche übersetzt wurde, stand der kritische Rahmen, das theoretische Denken nicht so sehr im Vordergrund, es wurde nicht gleich am Anfang präsentiert, damit die Leser*innen den Text so interpretieren konnten, wie sie wollten. In meinem aktuellen Buch »Auf uns gestellt« wollte ich das ein wenig in Frage stellen, die Leute eher in bestimmte Richtungen lenken, die meine eigene politische Praxis in den letzten Jahrzehnten untermauert haben. Ich habe die Interpretation meiner Erfahrungen den verschiedenen Lebens- und Politkontexten entsprechend, die ich durchlaufen habe, verändert und über die Zeit ein differenzierteres Verständnis von ihnen entwickelt.

Wenn Sie von politischer Praxis sprechen, meinen Sie damit parlamentarische Politik oder soziale Bewegungen?

Beides. Einerseits würde ich sagen, dass gelebte Erfahrung eine wichtige Einsicht sein kann, eine wertvolle Herausforderung der orthodoxen Art und Weise, Politik zu machen, sowohl in sozialen Bewegungen als auch in der Mainstream-Gesellschaft. Andererseits kann gelebte Erfahrung aber auch vereinnahmt werden, sie kann zum Alibi werden. Wahrscheinlich ist es nützlicher, wenn Menschen mit marginalisierten Lebenserfahrungen diese Erfahrungen auspacken, sich kritisch damit auseinandersetzen und daraus einen politischen Rahmen entwickeln.

Ein durchgängiges Thema Ihres Buches ist die Reflexion über die Klassenstruktur der Linken, die Sie zu Recht als überwiegend weiß und bürgerlich beschreiben. Gleichzeitig sind Sie selbst Teil dieses Milieus geworden, indem Sie aus der Armutsklasse, wie Sie es nennen, aufgestiegen sind. Sehen Sie es als politische Praxis an, die Erfahrungen, die Sie beim Aufwachsen in dieser marginalisierten Gemeinschaft gemacht haben, zu dokumentieren? Geht es auch darum, die Informationen einer Linken oder einer Gesellschaft im Allgemeinen zugänglich zu machen, die nicht dieselben Erfahrungen gemacht hat?

Ich lese gerne, das tue ich, seit ich vor etwa 20 Jahren damit angefangen habe. Aber ich lese kein Buch und sage: »Das ist die absolute Wahrheit, alles, was darin steht, ist genau richtig, vielen Dank.« Ich stelle mir vor, dass meine Interpretation eines Buches nicht immer mit der vom Autor beabsichtigten übereinstimmt. Vielmehr habe ich Informationen und Wissen erhalten, und jetzt kann ich mich damit beschäftigen. Ich habe Rückmeldungen von Leuten erhalten, die einen anderen Hintergrund haben, und von Leuten, die einen ähnlichen Hintergrund haben wie ich selbst. Es ist eine Art Dialog, und ich gehe davon aus, dass die Menschen, die meine Bücher lesen, sich auf eine Art und Weise mit ihnen auseinandersetzen, die ich nicht vorhersehen kann. Letztendlich habe ich ein Buch geschrieben, kein Manifest, in dem steht, dass ihr alle losziehen und euch organisieren sollt – obwohl ich Organisierung für unverzichtbar halte. Wenn überhaupt, dann sind meine beiden Bücher Beiträge zu einer kollektiven Debatte, zur Entwicklung von kollektiven Praktiken.

Ein anderes wichtiges Thema Ihres Buches sind die Schwierigkeiten, mit denen eine so marginalisierte Gemeinschaft wie die Irish Traveller beim Aufbau von solidarischen Netzwerken zu kämpfen hat. Solidarität ist hier ungleich schwieriger zu leisten als zwischen Menschen aus der Mittelschicht. Sie beschreiben, dass das an bestimmten Punkten möglich ist, aber die meiste Zeit eben nicht.

Sie sprechen hier von der Kluft zwischen der weißen linken Mittelschicht und den »Lumpengemeinschaften«. Ich schreibe über diese Kluft, und für mich besteht das Ziel darin, dass man versucht, relationale Solidarität zu üben, Beziehungen der Fürsorge aufzubauen, Praktiken der gegenseitigen Hilfe zu entwickeln und zu verstehen, dass es Zeit braucht, dass man immer wieder scheitern und sich immer wieder neu engagieren muss. Diese Einsicht fehlt der Linken im Vereinigten Königreich weitgehend. Oft werden Versuche unternommen, die Leute scheitern und verschwinden wieder. Weil es vielleicht kein sofortiges Verständnis gibt, beschließen linke Gruppen dann, dass es politisch nicht zweckmäßig, nicht die dringendste Notwendigkeit ist, sich mit Menschen aus anderen Schichten auseinanderzusetzen. Ausserdem leidet die britische Linke quasi unter Aufmerksamkeitsdefizitstörung – wir taumeln von einer Krise zur nächsten ...

Aber die Weltlage ist ja wirklich ganz furchtbar derzeit, und Besserung ist nicht in Sicht.

Auf jeden Fall, aber gerade angesichts dessen macht es Sinn, unsere Bemühungen eher auf den Aufbau von Intimität, Fürsorge und Solidarität zu richten und auf die Hoffnung, die klassenmäßigen – auch kulturellen – Klüfte mit der Zeit zu überbrücken. Und zwar auf eine Art und Weise, die nicht die Logiken der Bestrafung verstärkt, die wir so oft sehen und die dem Kapitalismus innewohnen. Diese Logiken bestimmen allerdings die Art und Weise, wie wir leben, und es ist entsprechend schwer, sie zu vermeiden.

Ich frage mich manchmal, ob und inwiefern solidarische Netzwerke auch eine Form des Angriffs sein können. Der klassische marxistische Ort des Kampfes wäre ja der Arbeitsplatz, wo die Menschen objektiv gesehen die Macht haben, durch Streik die kapitalistische Produktion zu stoppen. Aber vieles von dem, was die Linke in Deutschland macht, findet an anderen Orten statt. Wirsind faktisch an den Rand gedrängt, und wenn wir dort Netzwerke aufbauen, scheint das eher ein Weg zu sein, um diese Situation der Marginalisierung zu überstehen – und weniger ein Weg, um Stärke zu erlangen und den Kapitalismus zu stürzen.

Sicher, das Ziel ist es, die Produktionsmittel zu vergesellschaften. Aber auf dem Weg dorthin müssen erstmal andere Schritte unternommen werden. Die Gewerkschaften in diesem Land sind zwar so stark wie seit zwanzig Jahren nicht mehr – aber sie sind immer noch meilenweit von dem entfernt, was sie waren, bevor sie durch Thatcher und Co. demontiert wurden. Wir müssen eine Basis aufbauen, nicht nur innerhalb eines Sektors, sondern innerhalb mehrerer Sektoren, und das schließt eben auch diejenigen ein, die am Rand von Kapital und Industrie leben. Das ist es, was ich meine, wenn ich von Praktiken der Solidarität und der Fürsorge spreche: den Aufbau von Beziehungen, von Netzwerken, auf eine Weise, die die politische Subjektivität derjenigen nicht ignoriert, die am stärksten marginalisiert sind. Sobald das weiter fortgeschritten ist, werden die Organisationen, die den Kapitalismus abschaffen wollen, eine viel größere Kapazität haben, dies zu tun. Wenn man dafür keine Basis aufbaut und seinen eigenen Kram nicht aufarbeitet, dann versucht man damit etwas, auf das man nicht im Entferntesten vorbereitet ist.

Während der Hochphase des Neoliberalismus – also von den 1970ern bis in die 1990er Jahre – wurden die Gewerkschaften in diesem Land in Stücke gerissen, ebenso wie die Arbeiter*innenklasse als Ganzes. Seitdem wurde nicht mehr darüber nachgedacht, wie man das alles wieder aufbauen kann. Vielmehr gingen wir davon aus, dass wir einfach so weitermachen müssen wie zu den Zeiten, als wir stark waren – als ob der Kontext gleichgeblieben wäre und unsere Methoden sich nicht ändern müssten. Ganz abgesehen davon, wie wir auf vergangene Siege blicken und ob diese so zufriedenstellend oder vollständig waren, wie wir uns eingeredet haben. Wir sind weniger geworden, und die Zersplitterung ist unerbittlicher als in der Vergangenheit. Wenn wir verlieren, heißt es nur »Oh, wir haben schon wieder verloren« und alle beschweren sich darüber, dass die anderen nicht gekommen und wir zu wenige sind. Als ob das nicht längst verdammt offensichtlich wäre! Es gibt eine Tendenz in einer Vielzahl von linken Organisationen, dass »die Arbeiterklasse« nur deshalb auftauchen soll, weil die Linke es befiehlt, und wenn sie es nicht tut, dann liegt das am mangelnden Klassenbewusstsein und nicht an der Linken, die ihrerseits über viele Dinge nur ein Halb-Bewusstsein hat.

Das lässt mich an eine Sache denken, die ich in Ihrem Buch wirklich produktiv fand: Sie unterscheiden zwischen Arbeiterklasse und Armutsklasse und verweisen damit darauf, dass es eine Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse gibt. Können Sie ein wenig über diese Unterscheidung sprechen?

Sicher. Das hat mit der sich verändernden Klassenzusammensetzung zu tun, die auf die Veränderungen der nationalen und internationalen kapitalistischen Machtstruktur zurückzuführen ist. Im Vereinigten Königreich war die industrielle Arbeiterklasse vor 150 Jahren ein riesiger Monolith, aber es gab es immer einen kleinen Teil der Bevölkerung, der aus verschiedenen Gründen von dieser Sphäre der Lohnabhängigkeit ausgeschlossen war. Dann entwickelte sich eine Art Zwischenklasse, ob wir sie nun Mittelklasse nennen wollen oder nicht. Mit der Zeit wurde die Mittelschicht größer. Und einige Leute trennten sich von der Arbeiterklasse nach oben und wurden Teil des Kleinbürgertums. Dann wurden einige von der Unterschicht der Arbeiterklasse abgeschnitten und in die »Lumpenbevölkerung« gepresst. In den 1980er Jahren und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts wurde die Mittelschicht größer, aber in den letzten zehn oder zwanzig Jahren ist sie geschrumpft. Einige sind nun Teil der Arbeiter*innenklasse, viele haben sich dem Kleinbürgertum angeschlossen, sei es in der traditionellen Form des Kleinunternehmers oder in der neuen Form der Kreativindustrie und Wissensproduktion. Das sind derzeit vielleicht die größten Klassen, Großbritannien hat wirtschaftlich zu kämpfen, die Mittelschicht bröckelt, kann ihre derzeitige Zahl nicht halten, also werden die Leute hinausgedrängt und in noch prekärere Verhältnisse gebracht. All die Versprechungen von Eigentum und tollen Arbeitsplätzen sind für eine Mehrheit der Lohnabhängigen hin. Das erzeugt Druck von unten und drängt immer mehr Menschen aus der Arbeiterklasse in die »Lumpenposition«. Menschen, die mit Null-Stunden-Verträgen im Niedriglohnsektor arbeiten und dann wieder gehen müssen. Dann gibt es noch diejenigen, die aufgrund ihres Migrationsstatus oder ihrer Behinderung unterdrückt werden, auch dafür ist meine Familie ein gutes Beispiel. Sie befinden sich seit Generationen in dieser Situation, immer und immer wieder.

Das ist ein Fehler, den wir machen, und ich bin genauso schuldig wie alle anderen: Klasse als statisch zu betrachten, als etwas Ewiges, das man von der Wiege bis zur Bahre hat. Aber der Grund, warum der Mythos der Meritokratie so akzeptiert wird, ist, dass es eine gewisse Klassenmobilität gibt, dass einige Individuen aufsteigen und andere absteigen und dass sich die Klassenzusammensetzung abhängig davon verschiebt und verändert. Das macht die Sache so unübersichtlich. Ich arbeite in einem Mittelschichtskontext, meine Kollegen sind in neuen kleinbürgerlichen Rollen tätig und kommen meist aus der Mittelschicht. Sitzen wir im selben Boot? Sind unsere Interessen die gleichen? Gibt es genügend Gemeinsamkeiten, um uns zu organisieren, und was passiert, wenn wir diejenigen einbeziehen, mit denen wir klassenmäßig verwandt sind? Wie sieht diese Organisierung aus? Dogmatische Marxisten sprechen von »einer großen Arbeiterklasse«, was zwar cool ist, aber verdammt nutzlos, wenn es um die grundlegende Organisierung im Handgemenge geht.

Meinen Sie, Sie machen aufgrund Ihrer sozialen Mobilität eine andere Erfahrung innerhalb der Mittelschicht als diejenigen, die in diese hineingeboren wurden? Sie sind also irgendwie auf dem gleichen Niveau, aber erleben es trotzdem anders?

Ja. Wenn man es rein nach dem Beruf und vielleicht nach einigen Formen von kulturellem und sozialem Kapital beurteilen würde, würde ich wahrscheinlich zum neuen Kleinbürgertum gezählt werden. Und die meisten anderen Leute, die zum neuen Kleinbürgertum gehören, kommen aus der Mittelschicht. Sie sind nach unten gerutscht und spüren daher die Angst vor dem Klassenabstieg. Das bringt eine ganze Reihe von psychologischen Problemen mit sich. Es ist fast nebensächlich, aber nur sehr wenige dieser Menschen, die aus der Mittelschicht gefallen sind, werden sich ganz unten in der »Lumpenklasse« wiederfinden. Ich habe den Eindruck, dass sich diese Faktoren auf die politischen Maßnahmen auswirken, die die Menschen ergreifen wollen, auf die Art und Weise, wie sie sich politisch engagieren wollen und wie sie in diesem Zusammenhang über die Klasse sprechen.

Vielleicht gibt es auch eine Möglichkeit, hier eine gemeinsame Basis zu finden. Denn wenn ich Ihr Buch lese, sind aus meiner Sicht einige ziemlich extreme Dinge in Ihrem Leben passiert, Dinge, die weit außerhalb meines Erfahrungsbereichs liegen. Aber auch Menschen, die nicht dieselben Erfahrungen machen, könnten zumindest die Fragilität ihres eigenen Klassenstandes erfahren. Ich habe das Gefühl, dass dies auf etwas Universelles hinweisen könnte, zum Beispiel, dass es im Interesse aller oder der meisten Menschen liegt, diese Gesellschaft grundsätzlich zu verändern.

Sicherlich lassen sich in all dem Gemeinsamkeiten finden, aber ich glaube nicht, dass wir sofort auf sie fokussieren sollten. Wir sollten die bestehenden Unterschiede nicht ignorieren, sondern uns mit ihnen auseinandersetzen. Ich meine, das ist das Problem im Hinblick auf Sexismus und Rassismus bei den Gewerkschaften im Vereinigten Königreich: Es hat immer eine Verflachung dieser Themen gegeben, immer hieß es, »lasst uns die gemeinsame Basis für uns alle finden«, aber das hat jedes Mal nicht nur einige spezifische Erfahrungen negiert, sondern auch die Bedingungen, welche diese rassifizierten oder geschlechtsspezifischen Realitäten hervorgebracht haben. Wir müssen uns also mit den Unterschieden und den Spannungen auseinandersetzen, bevor wir in der Lage sind, eine Stärke aufzubauen, bei der Gemeinsamkeiten gefunden werden können.

Interview

D Hunter ist Schriftsteller*in und Moderator*in und seit zwei Jahrzehnten in der antikapitalistischen Organisierung tätig. Davor arbeitete D Hunter als Sexarbeiter*in, Drogenhändler*in, Autodieb*in und Straßenkriminelle*r. Nach vielen Jahren in Gefängnissen und auf der Straße lebt D Hunter derzeit in Manchester und schreibt an einer Doktorarbeit über die Auswirkungen von Weißsein und Männlichkeit auf den Widerstand der Arbeiter*innenklasse.

Interview mit D Hunter: Kein Klassenkampf ohne die »Lumpenposition«
Die Fotografien

In ihren 2019 und 2020 entstandenen Foto­serien »The Children of Carrow­browne« und »Youth of the Island Field« gibt Ostkreuz-Fotografin ­Tamara ­Eckhardt einen Einblick in das durch Armut, Arbeits­losigkeit, Drogen und ­Kriminalität geprägte Aufwachsen von Kindern und Jugend­lichen aus der Irish-Traveller-Community, der größten ethnischen Minderheit Irlands (S. 19) sowie aus einer Sozialsiedlung in der Stadt ­Limerick in Westirland (S. 20/21).

Die Formen von Diskriminierung, die ich persönlich erfahren habe, sind Sexismus und Misogynie, natürlich auch innerhalb der Linken. Diese und andere Formen der Diskriminierung müssen unbedingt benannt und angesprochen werden. Aber es gibt Bewegungen innerhalb der Linken, die sich nur auf die Unterschiede konzentrieren, und das scheint mir ein Problem zu sein: Es muss doch einen universalistischen Ansatz geben, wenn wir echte Veränderungen wollen.

Ich denke einfach, dass beide Richtungen, ob es sich nun um Identitätspolitik handelt – wobei Identitätspolitik natürlich keine homogene Sache ist, es gibt verschiedene Richtungen innerhalb dieser Politik, mit denen ich teilweise übereinstimme und die ich teilweise abstoßend finde – oder um Klassenpolitik: Beides allein wird nicht funktionieren, sie müssen zusammengebracht werden. Sie vervollständigen sich gegenseitig. Es macht eine Bewegung stärker, wenn wir uns mit beiden Konzepten gleichzeitig beschäftigen, sie als miteinander verwobene Dinge verstehen, anstatt als konkurrierende Diskurse. Aber ich glaube, damit vertrete ich eine Minderheitenmeinung ...

Zum Schluss: Was haben Sie denn derzeit politisch so vor?

Ich habe vor Kurzem ein langfristiges Projekt abgeschlossen, bei dem ich in verschiedenen Arbeiter*innenmilieus zu den Themen Schadensbegrenzung und Verantwortungsübernahme gearbeitet habe. Die zentrale Fragestellung dabei war: Wie können Communitys die Kontrolle über die Reaktionen auf interne Gewalt übernehmen, anstatt dass sich die Polizei oder die Sozialarbeiter einmischen? Die Arbeit mit diesen Menschen war lange Zeit mein Hauptanliegen. Ich möchte in den nächsten Monaten wieder in die organisierte Politik einsteigen, im Moment kümmere ich mich allerdings erstmal um mein neugeborenes Kind.

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