S-Bahn-Surfen: Auf der Welle des Leichtsinns

In Berlin häufen sich tödliche Mutproben auf den Dächern der S-Bahn

  • Patrick Volknant
  • Lesedauer: 3 Min.

Nach 500 Metern war die Fahrt schon wieder vorbei und sie endete schmerzhaft. Mit einem gebrochenen Becken und Verletzungen am Brustkorb wurde ein junger Berliner in der Nacht zum Sonntag ins Krankenhaus eingeliefert. Der 15-Jährige kletterte laut Polizei in der Köpenicker Wendenschloßstraße auf das Heck einer Tram, verlor dann den Halt und prallte gegen einen Oberleitungsmast.

Immer wieder erklimmen Jugendliche fahrende Bahnen in Berlin, um ihren Mut unter Beweis zu stellen. Doch die Tram ist dabei vielen nicht genug: Seit Jahresbeginn häufen sich die Fälle des »Surfens« auf S-Bahnen, bei denen die Dächer der Waggons als lebensgefährliche Mitfahrgelegenheit dienen. Schon Ende August verzeichnet die Polizei mit vier Straftaten doppelt so viele wie jeweils für die Jahre 2021 und 2022. Eine der Mutproben seit Jahresbeginn endete tödlich: Im Mai wurde der leblose Körper eines 19-Jährigen am S-Bahnhof Mexikoplatz gefunden.

»Jeder, der sich darauf einlässt, muss wissen, dass es ein Spiel mit dem eigenen Leben ist«, sagt Jens Schobranski zu »nd«. »Das lässt sich einfach nicht kontrollieren. Es gibt Sogwirkungen, man rutscht aus oder knallt gegen einen Brückenkörper.« Der Sprecher der Bundespolizeidirektion Berlin berichtet von insgesamt 30 Surfer*innen in den vergangenen zehn Jahren. Sechs von ihnen starben bei den leichtsinnigen Aktionen. Die meisten der registrierten Vorfälle ereigneten sich auf der Linie der S1. Weil deren Haltestellen im Westen relativ weit auseinanderliegen, eignet sich die Strecke ganz besonders zum Angeben.

Schobranski zufolge sind es allermeistens junge Männer, die ihr eigenes Leben auf den S-Bahn-Dächern gefährden. Auch Fälle im Kindesalter seien bekannt. »Wenn da einer im erweiterten Freundeskreis ist, der mit seiner Fahrt prahlt, fühlen sich andere davon herausgefordert«, führt der Polizeisprecher aus. Eine wichtige Rolle spiele dabei auch die Selbstdarstellung in den sozialen Medien. Mit entsprechenden Videos würden Nachahmer*innen noch einmal zusätzlich motiviert.

Zugleich aber helfen die Videos der Polizei dabei, sich auf die Spur der Täter*innen zu begeben. »Sobald wir von so einem Video Kenntnis erlangen, werden Ermittlungen eingeleitet«, sagt Schobranski. »Wir prüfen dann, wo und wann der Täter zu sehen ist, und verfolgen das, bis wir einen Namen haben.« Neben Informationen im Netz hälfen Zeug*innen und Aufnahmen von Überwachungskameras bei der Suche. Volljährigen drohten neben Geldstrafen bis zu zehn Jahre Gefängnis.

Dass sich die Zahl der Taten durch den Einfluss der sozialen Medien deutlich vergrößert hätte, lässt sich jedoch nicht feststellen. Mit Blick auf die 90er Jahre spricht Schobranski von »einer ganzen Reihe an Vorfällen«. Deren Häufigkeit sei vor allem auf die Konstruktionsweise damaliger S-Bahnen zurückzuführen: Trittbretter und hervorstehende Fensterrahmen hätten die Möglichkeit geboten, sich an den Zügen kurzerhand festzuklammern.

Nicht nur mit dem derzeitigen Design der Züge wird versucht, dem Surfen vorzubeugen. Wie die Deutsche Bahn »nd« mitteilt, setzt sie auf »umfassende Präventionsarbeit«: Expert*innen seien in Schulen, Kitas und Bahnhöfen unterwegs. Auf Plakaten an den Bahnsteigen, in den sozialen Medien und mit Infopaketen für Schüler*innen werde seit Jahren aufgeklärt.

Während die Bundespolizei für das S-Bahn-Netz der Deutschen Bahn zuständig ist, kümmert sich die Berliner Landespolizei um die Züge der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Weder die Behörden noch die BVG konnten aktuelle Zahlen bis Redaktionsschluss mitteilen.

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