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  • Identitäts- und Klassenpolitik

Fehlt der Linken die Klassenpolitik?

Der Aufstieg der Rechten wird oft damit erklärt, die Linke hätte die Politik für die Arbeiterklasse aus den Augen verloren. Ein fataler Irrtum

  • Emanuel Kapfinger
  • Lesedauer: 8 Min.
Werkbank statt Schreibtisch: Gemeinhin werfen sich Linke gegenseitig vor, die Arbeiter*innen sitzen gelassen zu haben. Aber liegt hier wirklich das Problem?
Werkbank statt Schreibtisch: Gemeinhin werfen sich Linke gegenseitig vor, die Arbeiter*innen sitzen gelassen zu haben. Aber liegt hier wirklich das Problem?

Jüngst attestierte die Mitte-Studie jeder zwölften Person in Deutschland ein rechtsextremes Weltbild. Passend dazu verzeichnet die AfD immer höhere Zustimmungswerte. Anfang September erreichte sie in der sogenannten Sonntagsfrage ein Umfrageergebnis von 22 Prozent und ließ damit sogar die SPD hinter sich. Die Ursache für diesen immer deutlicheren Rechtsrucks sehen viele in der Linken in einer fehlenden Klassenpolitik. Von links konzentriere man sich zunehmend auf identitätspolitische Belange und habe soziale Politik für die Arbeiter*innen aus den Augen verloren. Diese Entwicklung habe auch zu dem rasanten Wählerschwund der Linkspartei geführt, bis hin zu deren absehbarer Spaltung und der Zunahme orthodoxer Positionen in der Linken. Was aber ist dran an dieser Erklärung?

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Kontakt zur Arbeiterklasse verloren?

Die Erklärung des Rechtsrucks durch fehlende Klassenpolitik geht auf die Diskussion des 2016 ins Deutsche übersetzten Buches »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon zurück. Der Aufstieg der radikalen Rechten wird hier so erklärt, dass die Linke die Arbeiter*innenklasse nicht mehr repräsentiere: Sie kümmere sich nur mehr um identitätspolitische Themen wie geschlechtergerechte Sprache, habe aber die Klassenfrage und die soziale Gerechtigkeit aus dem Blick verloren. Für viele ergibt sich daraus die Frage, wie man »die normalen Menschen« außerhalb der linken Blase ansprechen und organisieren kann. Denn die Linke ist marginalisiert und in desolatem Zustand. Eine Klassenpolitik, die die Interessen der Arbeiter*innenklasse wieder verbindet und etwa eine kämpferische Partei an ihre Spitze setzt, scheint da einen verheißungsvollen Ausweg zu bieten. Diese Position wird nicht nur vom Wagenknecht-Flügel der Linkspartei vertreten, sondern ist auch mit der anhaltenden Konjunktur einer »Neuen Arbeiterliteratur« und mit der aktuellen »roten Wende« der linksradikalen Szene zum Neoleninismus verbunden.

Über die identitätspolitische Linke, die mittlerweile selbst zum »Establishment« gehöre und den Kontakt zu den Menschen verloren sowie sich von deren alltäglichen Problemen abgewandt habe, sei die Arbeiter*innenklasse empört – angeblich berechtigterweise. Denn in der Identitätspolitik würden privilegierte Randgruppen ihre partikularen Probleme zu allgemeinen verkehren und damit in einem Bündnis mit dem Neoliberalismus stehen. Weil die radikale Rechte dagegen diese identitätspolitischen Themen kritisiere und immer wieder auch Verständnis für soziale Nöte zeige, würde sich die Arbeiter*innenklasse dem rechten Lager zuwenden. Als antifaschistische Strategie wird daher eine Rückkehr zur Klassenpolitik gefordert: Die Linke müsse den Kontakt zu den Menschen wiedergewinnen und sich endlich wieder dem verlorenen Markenkern der Linken, der sozialen Gerechtigkeit, widmen.

Klientelpolitik für Privilegierte

Diese Erklärung ist deutlich zu kritisieren. Schon die Voraussetzung ist falsch, nämlich die Annahme, dass die Linke das Thema der sozialen Gerechtigkeit vergessen hätte. Tatsächlich standen sozialpolitische Forderungen stets mit an erster Stelle, so etwa bei den vielen Krisenprotesten von 2009 bis 2012, der Solidarität mit der Krankenhausbewegung (und anderen Streiks) oder im Parteiprogramm der Linkspartei. Diese linken Programmpunkte finden in der Öffentlichkeit kaum Repräsentation, nicht weil die Linke sie nicht als Thema setzen würde, sondern weil in der neoliberalen Hegemonie solche Themen eben marginalisiert werden. Wagenknechts Polemisieren mit Klassenpolitik funktioniert medial gerade darum, weil sie genau genommen keine Klassenpolitik einfordert, sondern Identitätspolitik anprangert und eine national aufgeladene Klientelpolitik für Privilegierte dagegenstellt, die sie als »Klassenpolitik« ausgibt.

Tatsächlich existiert innerhalb der Linken auch eine solche aggressive, antisoziale Identitätspolitik, wie sie die Debatte auf dem Kieker hat. Diese wurde jedoch stets von großen Teilen der Linken scharf kritisiert. Zugleich stimmt es nicht, dass identitätspolitische Themen nur für privilegierte Randgruppen, nicht aber für die »einfachen« Menschen relevant seien. Im Gegenteil: Grob die Hälfte dieser einfachen Menschen sind weiblich, über ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands hat einen Migrationshintergrund, viele von ihnen sind queer. Für alle diese Menschen gehören die identitätspolitischen Themen zu ihren »alltäglichen Problemen«.

Schließlich sind es nicht die sogenannten einfachen Menschen, die nach rechts kippen, zumindest wenn man darunter eine soziale Lage versteht, in der man sich trotz harter Arbeit in einer dauerhaften existenziellen Notsituation befindet, weil man nur mit großen Schwierigkeiten oder gar nicht Zugang zu Hartz IV erhält – oder weil auch Hartz IV diese Not nicht abwenden kann. Eine solche soziale Lage betrifft in Deutschland in erster Linie Menschen, die von Gewaltverhältnissen über die Klasse hinaus betroffen sind und die darum die AfD gerade nicht wählen, darunter insbesondere Migrant*innen. Ein hauptsächlicher Teil der »Arbeiter*innenklasse« in dem hier gemeinten Sinne, dass diese den Wohlstand in Deutschland produziert und trotzdem existenziell vor dem Nichts steht, lebt und arbeitet hingegen außerhalb Deutschlands und Europas.

Die meisten weißen Deutschen haben einen eher bürgerlichen Lebenshorizont – nicht nur die klassische »Mittelschicht« der Angestellten, Kleinbürger*innen, Bildungsbürger*innen, sondern gerade auch die Arbeiter*innen sowie viele Arbeitslose (beispielsweise aufgrund ihres kulturellen Kapitals in Hochschulabschlüssen oder bürgerlichen Netzwerken). Sie sind Leidtragende des Kapitalismus und in ihm zugleich privilegiert: ökonomisch, aber auch – und darauf kommt es hier vor allem an – in kultureller Hinsicht, aufgrund ihres Status und ihrer anerkannten Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie kippen nach rechts, weil sie den Verlust ihres bürgerlichen Lebenshorizonts befürchten. In den Krisentendenzen seit 2009 drohen sie ihren vormaligen privilegierten Status als »Träger der Gesellschaft« und damit ihre langfristige materielle Sicherung zu verlieren.

Rechtsradikale Kulturpolitik

Diejenigen, die sich aus einer irrationalen Wut auf eine angeblich identitätspolitische Linke der radikalen Rechten zuwenden, haben diese Aggression und projektive Wahrnehmung vielmehr aufgrund ihrer eigenen Situation entwickelt, die in keinem direkten Zusammenhang mit der Linken steht. Die bedrohten Mittelschichtsangehörigen gehen nicht zur radikalen Rechten über, weil sie sich von dieser primär soziale Gerechtigkeit versprechen. Die radikale Rechte repräsentiert aufgrund ihres Maskulinismus, Rassismus, Nationalismus diejenigen Positionen, die für diese Menschen mittlerweile selbst interessant geworden sind. Sie vermittelt ihnen einen autoritären Selbstgewinn, Gefühle der Macht und Grandiosität, die das in den Krisenerfahrungen angeknackste Selbstbewusstsein kompensieren können. Hierin stellt allerdings die soziale Privilegierung der weißen männlichen Deutschen tatsächlich eine attraktive Komponente dar, die die Linke selbstverständlich nicht vertritt. Die bürgerlichen Subjekte entwickeln eine Wut gegen die Identitätspolitik, weil sie bereits Maskulinisten, Rassisten und Nationalisten geworden sind, und ihnen fehlt die Klassenpolitik bei der Linken, weil sie darunter bereits eine partikulare Politik für die weißen männlichen Deutschen verstehen.

Die Lage ist jedoch dadurch kompliziert, dass sich dieses Motiv des Selbstgewinns in einschlägig »rechtsextremistischen«, also faschistischen Mobilisierungen durchaus mit einem ökonomischen, pseudoantikapitalistischen Motiv verbinden kann. Existenzielle ökonomische Einschnitte können eine erhebliche antikapitalistische Energie produzieren. Stößt sie auf einen bürgerlichen Lebenshorizont, führt diese Energie aber nicht nach links, sondern nach rechts. Dieser tatsächliche Faschismus wird von Neonazi-Kameradschaften, aber auch vom »Flügel« der AfD um Björn Höcke politisch verkörpert, der beim letzten AfD-Parteitag seine deutliche Dominanz beweisen konnte. Dennoch scheint dieser Faschismus noch nicht die gesellschaftlichen Ausmaße des Autoritarismus erreicht zu haben, der heute mit einer Vielzahl von starken Bewegungen wie Pegida, den Lebensschützern, den Querdenkern, der aktuellen Hetze gegen »Klima-Terrorist*innen« sowie dem hohen Zuspruch zur AfD eine massive gesellschaftliche Kraft darstellt. Ob die AfD ihre Programmatik zukünftig faschistisch gestalten wird, wird sicherlich auch von der Verbreitung faschistischer Ideologien in der Bevölkerung abhängen. Bis dato thematisiert die AfD im Allgemeinen jedenfalls die soziale Frage, indem sie sie kulturell auflädt, hat aber noch keine pseudoantikapitalistische, national-sozialistische Rhetorik, wie sie der »Flügel« anstrebt.

Sowohl für die autoritäre als auch für die faschistische Bewegung setzt die Forderung, »endlich wieder« Klassenpolitik zu machen, um dem Rechtsruck zu begegnen, auf der falschen Ebene an. Die Menschen wählen die AfD nicht aufgrund ihrer Klassenpolitik, denn die Partei betreibt ja gar keine, es sei denn, man versteht darunter eine Klassenpolitik für Privilegierte. Klassenpolitik gibt es nicht von rechts – die Linke hat jedoch nie aufgehört, Klassenpolitik zu machen. Die Menschen wählen die AfD aufgrund ihrer rechtsradikalen Kulturkritik. Dem Rechtsruck muss daher auf der Ebene der Kultur begegnet werden.

Kulturrevolution

Ohne Frage lässt die derzeitige Klassenpolitik wie auch die organisatorische Lage der Linken generell zu wünschen übrig. Gegen die angesichts der vielfachen Krisen weiterhin zu erwartenden rechtsradikalen Mobilisierungen hilft es aber gerade nicht, einseitig das ökonomische Elend zu adressieren und die Klassenpolitik zu stärken. Ein zeitgemäßer Antifaschismus muss vielmehr die grassierenden kulturellen Probleme adressieren: beispielsweise die zunehmende Polarisierung der politischen Debatten, die zunehmende Instrumentalität und Brüchigkeit von Nahbeziehungen und damit verbundene Einsamkeit oder die Nichtrepräsentanz in einer abgehobenen offiziellen Medienlandschaft, der eine hyperintime Pseudorepräsentanz im Konsumismus gegenübersteht.

Dafür müssen wir emanzipatorische Kulturpraxen entwickeln, die den Menschen in ihrem kulturellen Elend konkret im Hier und Jetzt helfen, dabei aber zugleich den bürgerlichen Lebenshorizont tendenziell überwinden. Solche kulturrevolutionären Projekte gab es schon einmal auf breiter gesellschaftlicher Ebene: einerseits die proletarische Kultur der Revolutionen ab 1917, beispielsweise die »Arbeiter-Illustrierte-Zeitung«, das avantgardistische Arbeitertheater (Volksbühne) oder Sexpol, andererseits die Gegenkultur von 1968 wie die Kommunen, die Kinderläden, die Gegenöffentlichkeit oder die Autonomen Frauenhäuser. An diese Erfahrungen gilt es heute anzuknüpfen und zu fragen: Wie können heute kulturemanzipatorische Praxen der Massen in antifaschistischer Absicht aussehen?

Emanuel Kapfinger arbeitet zur Theorie des Faschismus damals wie heute sowie zu den Grundlagen einer antiautoritär-marxistischen Kulturkritik. Zuletzt erschien sein Buch »Die Faschisierung des Subjekts« im Mandelbaum-Verlag.

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