Bacha Baazi in Afghanistan: Lust für einen, Qual für viele

Die »Knabenspiele« Bacha Baazi sind in Afghanistan weit verbreitet, obwohl den Taliban das Missbrauchsritual missfällt

  • Lena Reiner, Helmand
  • Lesedauer: 9 Min.
Abdul Wasir kommt gerade frisch aus dem Gefängnis, weil er einen Jungen missbraucht hat.
Abdul Wasir kommt gerade frisch aus dem Gefängnis, weil er einen Jungen missbraucht hat.

Diese Geschichte wurde durch einen jungen afghanischen Mann möglich, der im Grundschulalter als »Tanzjunge« angeworben werden sollte. Nur mit Glück entkam der heute 29-Jährige demjenigen, der ihn sexuell missbrauchen wollte. »Aus meiner Familie hätte mir niemand geholfen«, sagt er, »mit so etwas werden die Jungen komplett allein gelassen.« Daher versuche er nun selbst, seit er erwachsen ist, auf die Problematik aufmerksam zu machen und hat angeboten, für die Recherche zu dem heiklen Thema Gesprächspartner zu finden: »Das Thema muss mehr Aufmerksamkeit bekommen. Bacha Baazi ist ein sehr ernsthaftes Problem.«

Es ist nicht einfach, in einem Land, das von islamischen Extremisten regiert wird, Interviews zu sexuellem Missbrauch zu führen. Sexualität und sexuelle Gewalt sind Tabuthemen. So springen auch zunächst mehrere Gesprächspartner ab, unter anderem ein ehemaliges, inzwischen erwachsenes Missbrauchsopfer. Doch mitten in den abgelegenen Distrikten Nawzad und Greshk der südlichen Provinz Helmand gelingen dann Gespräche zum Thema.

Zuerst äußert sich ein Landwirt, der anonym bleiben möchte, zum weit verbreiteten Phänomen, das ihm selbstverständlich bekannt sei. Der Vater mehrerer Jungen betont, dass auch in dieser Gegend solche Tänze geschehen würden, die üblicherweise in sexuellen Übergriffen enden. Ob er seine Söhne warnt und aufklärt? Er schaut entsetzt und sagt dann bestimmt: »nein«. Über so etwas spreche er mit ihnen nicht. Seine Antwort auf die Frage, was er tun würde, wenn seine Jungen bei einem solchen Ritual sexuell missbraucht würden, überrascht: »Ich würde sie verprügeln!« – Die Täter? Nein, seine Söhne. »Wenn sie das mit sich machen lassen!«

Bacha Baazi

Bacha Baazi (mit stimmhaftem s gesprochen) stammt von den beiden Wörtern »Bacha« für Junge oder Knabe und »Baazi« für Spiel. Bei den »Knabenspielen« handelt es sich hier allerdings um einen Euphemismus für den sexuellen Missbrauch bzw. die sexuelle Ausbeutung von männlichen Kindern und Jugendlichen. Bei dem Bacha Baazi muss ein Junge vor einer Gruppe von Männern singen und tanzen, in vielen Fällen kommt es anschließend zu sexuellen Handlungen. Dieses Prostitutionsritual ist heute vor allem in Afghanistan verbreitet. lre

Und dann sitzt er da, in einem schlichten Gästezimmer in Greshk an einem sonnigen Mittag; ein »Bacha Baaz«, ein 37-jähriger Mann, der seit rund 15 Jahren Jungen missbraucht. Er stamme ursprünglich aus dem Distrikt Nawzad und sei Landwirt, sagt er. Er sei verheiratet und habe neun Kinder, drei Söhne und sechs Töchter.

Abdul Wasir ist ein zierlicher Mann mit großen Augen, der sehr auf sein Erscheinungsbild bedacht zu sein scheint. Für das Foto drapiert er seine Kleidung, schaut ruhig in die Kamera. Während des Gesprächs schaut er nervös hin und her, ab und an nachdenklich an die Decke. Er hat kein Problem damit, Gesicht zu zeigen und seinen Namen zu nennen, wenn er über das spricht, was in Deutschland als sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und Vergewaltigung geahndet werden könnte. Er betont das auf Nachfrage sogar mehrfach. Auch in Afghanistan ist das, was er macht, theoretisch ein Verbrechen. Theoretisch deshalb, weil Männer wie Wasir kaum bestraft wurden und werden, auch wenn sie ihre verbotene Vorliebe offen ausleben.

Die Taliban haben ihn für einige Zeit inhaftiert, mehrfach sogar, sagt er. Sie hätten ihn festgehalten und geschlagen. »Sie machen das häufiger und sagen, sie tun das, weil ich einen Jungen zu Hause habe.« Das letzte Mal wurde er nur freigelassen, weil er trotz der Schläge gelogen habe: »Ich sagte ihnen, ich mache kein Bacha Baazi.« Sieben Tage wurde er festgehalten. Er habe alle Beweise von seinem Smartphone gelöscht. Verloren sind die Bilder und Videos, die er darauf hatte, jedoch nicht. »Ich bin in einer Gruppe mit fünf weiteren Männern«, schildert er, sie schickten sich ihre Bilder gegenseitig und bewahrten sie füreinander auf, falls einer von ihnen verhaftet werde. Daher weiß er auch, dass er nicht der Einzige sei, der in dieser Gegend Sex mit Jungen hat. »Es sind viele hier, die das auch machen«, betont er. Er glaube auch, dass sein Junge Sex mit noch einem anderen Mann hatte.

Ein schlechtes Gewissen scheint er nicht zu haben. Offen schaut er in die Runde, wenn es um sein Vergehen geht. »Ich weiß, dass der Islam das nicht erlaubt, aber das ist mir egal. Ich liebe Sex mit Jungen, besonders mit den kleineren. Es ist mir egal, was die Religion oder die Taliban dazu sagen; ich mache, was ich mag«, führt er aus. Dennoch sei er ein stolzer Muslim. »Ich bin ein besserer Muslim als die Taliban«, sagt er.

Ob er weiß, was mit dem Jugendlichen, der mit ihm gemeinsam verhaftet wurde, passiert ist? Er schüttelt den Kopf. Der sei immer noch in Haft: »seit zwei Monaten inzwischen«. Der Jugendliche sei 17 Jahre alt, er habe drei Jahre lang diesen Jungen besessen, sagt er. »Ich habe ihm Taschengeld dafür gegeben.«

Abdul Wasir berichtet offen über seine sexuelle Vorliebe. Er steht zum Bacha Baazi und zeigt ein Bild des Jungen, den er missbraucht hat. Der Minderjährige sitzt noch immer im Gefängnis.
Abdul Wasir berichtet offen über seine sexuelle Vorliebe. Er steht zum Bacha Baazi und zeigt ein Bild des Jungen, den er missbraucht hat. Der Minderjährige sitzt noch immer im Gefängnis.

Vor ihm habe er weitere Jungen gehabt. Die genaue Zahl kann er nicht nennen: »Es waren viele in den letzten 15 Jahren.« Manche habe er länger behalten, mal zwei oder drei Jahre. Der Jüngste war zehn Jahre alt, sagt er, ein anderer war 12, ein weiterer 14.

»Ja, ich habe Sex mit den Jungen«, gibt er offen zu. Was er denkt, wie es den Jungen dabei gehe? Er zögert nicht, sondern erklärt: »Wenn jemand jemanden mag, dann kann man miteinander Sex haben.« Er denkt, dass die Jungen es auch gewollt hätten: »Ich glaube, sie finden es nicht schlimm. Ich glaube, dass es ihnen gefällt.« Dabei spiele das Alter keine Rolle. Er könne sich auch vorstellen, mit einem Fünf- oder Sechsjährigen Sex zu haben: »Es muss nur ein starker gesunder Junge sein.« Sobald einer zu groß wird und ihm ein Bart wächst, werde er unattraktiv für ihn. »Dann ist er überreif«, sagt er. Wenn hingegen vorher schon ein anderer Mann ihm den Jungen wegnehme, dann streite er mit ihm. Mehrfach sei es dabei schon zur Schlägerei um einen Jungen gekommen.

Wie seine Familie damit umgeht? »Sie wissen alle davon«, sagt er, »aber ich erlaube ihnen nicht, etwas dagegen zu sagen. Bacha Baazi ist unsere Kultur.« Seine neun Kinder bezeichnet er als Pflicht. Den Zeugungsvorgang beschreibt er als Zwang für sich, man müsse in dieser Gesellschaft mit einer Frau zusammenleben und Kinder haben. »Manchmal macht der Sex mit meiner Frau auch Spaß«, räumt er ein. Was er tun würde, wenn ein anderer Mann mit seinen Jungen das machen würde, was er anderen Jungen antut? Er zögert nicht lang und erklärt nach tiefem Luftholen: »Mein jüngster Sohn ist 13, ich versuche, ihn von Bacha Baazi fernzuhalten. Wenn jemand ihn dafür haben wollte, würde ich heftig reagieren und ihn verprügeln.« Seine Söhne dürfe niemand so anfassen. Er schiebt schnell hinterher, dass er ihnen allerdings erlauben würde, sich selbst einen Jungen zu »holen«, wenn sie alt genug seien. Auf meine Nachfrage nach dem Grund revidiert er seine vorherige Aussage. Auf einmal ist er nicht mehr sicher, ob es den Jungen auch gefällt. Er sagt: »Sex mit Jungen macht Spaß. Ich weiß aber nicht, ob es den Jungen Spaß macht.« Er betont, dass er sich ja nicht ausgesucht habe, Jungen sexuell attraktiv zu finden: »Es ist meine Neigung, ich mag Sex mit Jungen nun mal.«

Shirin* lebt in der Provinz Herat und hat viele Jahre als klinische Psychiaterin und Psychologin gearbeitet. Sexueller Kindesmissbrauch sei leider ein weit verbreitetes Problem in Afghanistan, sagt sie, und besonders für Jungen eine große Gefahr. »Unter der Republikregierung wurde das zwar offiziell zur Straftat erklärt, aber ich habe dennoch viele Opfer kennengelernt.« Eine offizielle Statistik kenne sie diesbezüglich nicht. Aktuell wisse sie, dass die Taliban gegen Bacha Baazi vorgingen, allerdings sei ihre Vorgehensweise weit von einer echten Lösung entfernt. »Sie verhaften sowohl die Täter als auch die Opfer«, das wisse sie aus unterschiedlichen Quellen.

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»Nur wenige solcher Opfer sind zu mir gekommen. Der Grund ihres Besuchs waren die Symptome nach traumatischen Erlebnissen wie etwa Angst und Panik, ein niedriges Selbstwertgefühl, Albträume und Schamgefühle.« Manche hätten sogar angefangen, deshalb Drogen zu nehmen. Die Klienten hätten dabei nie bei der ersten Sitzung über den Missbrauch gesprochen, meist habe es viele Treffen gebraucht, bis sie es gewagt hätten: »Sie hatten Angst, ihre Würde und Ehre zu verlieren.«

Die aktuelle enorm schlechte wirtschaftliche Lage des Landes, die weit verbreitete Armut führe leider zu einer Verstärkung des Problems: »Nicht nur die Androhung von Gewalt, sondern auch der Umstand, dass es sich teilweise um die einzige Einnahmequelle handelt, führen dazu, dass die Jungen bei den Tätern bleiben und Bacha Baazi sozusagen als ihren Beruf wählen.«

Dunja Neukam war mehrfach im Afghanistaneinsatz mit der Bundeswehr. Die Fachschwester für Anästhesie und Intensivmedizin wurde dort zufällig auf Bacha Baazi aufmerksam. Obwohl das Erlebnis knapp 20 Jahre zurückliegt, ganz genau weiß sie nicht mehr, ob es 2002, 2003 oder 2004 war, erinnert sie sich, wie sie Narben an einem jungen afghanischen Mann fand, die sie sich nicht erklären konnte. In Kabul war es, das weiß sie noch. »Ich habe ihn zur OP vorbereitet«, es sei um einen Eingriff an einem ganz anderen Körperteil gegangen, aber zur Überwachung der Körpertemperatur während des Eingriffs hätten sie immer ein Rektalthermometer verwendet. »Ich habe ihn also zur Seite gedreht«, schildert sie, »und wollte das Thermometer platzieren, und dann sehe ich: Er ist total vernarbt.«

Sie habe einen Sprachmittler nach der Operation hinzugezogen, im Aufwachraum. Dort habe sie zum ersten Mal den Begriff Bacha Baazi gehört. Und sich erklären lassen, was dieser bedeutet. »Ich erinnere mich noch an den Gesichtsausdruck des Sprachmittlers«, sagt sie, »da war kein totales Entsetzen zu sehen. Er fand es auf keinen Fall gut, aber da war eben auch die Erkenntnis, dass das eine gewisse Normalität hat in der Gesellschaft.« Einer ihrer Kameraden habe auch schon von Bacha Baazi gehört, den »Dancing Boys«, also den Tanzjungen.

Das sei das Schlimme, was sie über die Jahre gelernt habe, die Häufung der Vorfälle und Betroffenen. »Bacha Baazi findet bei manchen Veranstaltungen so statt, wie anderswo eine Stripperin gebucht wird«, sucht sie nach einem Vergleich, »nur dass es eben nicht dabei bleibt, dass der kleine Junge mit geschminkten Augen und oft in Mädchenkleidern tanzt, sondern das ist ja nur das Anheizen und danach geht’s zur Sache.« Sie schaudert bei dem Gedanken daran, was die Männer später am Abend mit ihnen anstellten – sexuellen Missbrauch, der zu solchen Narben führt, wie sie diese bei dem jungen Soldaten Anfang der 2000er-Jahre gesehen hat. »Ich möchte da gar nicht weiter drüber nachdenken, was ein Junge dann erleben muss«, sagt sie.

Dass sich unter der Talibanherrschaft eine Lösung finden lässt oder es ein konsequentes Vorgehen gegen die Verbrechen gibt, hält sie für aussichtslos: »Du sagst ja selbst, dass sie die Jungen auch verhaften. Dann stellt sich die Frage, was mit ihnen in der Haft passiert.«

* Name geändert

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