Die Praxis der Kritischen Theorie

Die Studie »Der nonkonformistische Intellektuelle« ist neu aufgelegt – und wurde in Frankfurt mit deren Autor Alex Demirović aktuell diskutiert

  • Lukas Geisler
  • Lesedauer: 6 Min.
Männer sagen, was zu tun ist: Die Praxis der Studentenbewegung um 1968 brauchte durchaus kritisch-theoretische Reflexion.
Männer sagen, was zu tun ist: Die Praxis der Studentenbewegung um 1968 brauchte durchaus kritisch-theoretische Reflexion.

Mit 20 Minuten Verspätung beginnt die Buchvorstellung im mittlerweile überfüllten Café KoZ auf dem ehemaligen Campus Bockenheim der Universität in Frankfurt am Main. 100 Menschen sind gekommen, um der Vorstellung von Alex Demirović’ Buch »Der nonkonformistische Intellektuelle« beizuwohnen, das ihn, wie er sagt, »zwölf Jahre meines Lebens gekostet hat«. Stephan Lessenich, Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS), und Christina Engelmann, die an einer aktuellen Studie zu feministischen Perspektiven auf die Geschichte des IfS mitgearbeitet hat, diskutieren die neu aufgelegte Studie zur Erneuerung des marxistischen Denkens durch die Kritische Theorie im Nachkriegsdeutschland.

Erziehung der Jugend

Das Studierendenhaus, in dem die Buchvorstellung stattfand, wurde vor 71 Jahren von Max Horkheimer, damals Rektor der Frankfurter Universität, persönlich eröffnet und mitsamt dem besagten Café KoZ unter studentische Selbstverwaltung gestellt. Es erschien ihm, wie er es in der Eröffnungsrede 1953 sagte, »nicht nur wie Verwirklichung eines Traumes, sondern eben damit wie ein Versprechen, dass noch ein weit kühnerer in Erfüllung geht«. Damit verwies er auch auf die generelle Not der Studierenden zu dieser Zeit – die meisten Gebäude der Universität waren zerstört und Studierende mussten sich an deren Aufbau beteiligen. Das Studierendenhaus sollte der Ort für die »Entfaltung produktiver Fantasie« werden. Horkheimer prognostizierte: »die Wirkung dieser Zelle wird sich aufs Ganze der Universität und weiterhin erstrecken, es wird ihr Zentrum werden«. Wie Demirović in seiner Studie zur älteren Kritischen Theorie herausarbeitet, sollte das Studierendenhaus zur Demokratisierung und Erziehung der akademischen Jugend weit über die Wissenschaft hinaus beitragen.

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Die Redepraxis Horkheimers sei daher eine »spezifische diskursive Intervention«, erklärte Demirović, deren besonderes Profil er im Kontrast zu anderen universitären Reden jener Zeit herausgearbeitet hat. In diesen Reden von Horkheimer und Theodor W. Adorno würden die theoretischen Grundpfeiler der Kritischen Theorie deutlich: Studierende sollten »nicht wandern gehen und dem Dudeln des Radios, das dumm mache, verfallen«, sondern es wurde an eine tätige Studierendenschaft appelliert, die »eine wahrheitsorientierte Lebensführung praktiziert und auf die rationale Umgestaltung der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Alltagspraktiken zielt«.

Pfeifend durchs Institut

Adornos und Horkheimers Sorge um Nachwuchs sei zu Beginn ihrer Rückkehr aus dem amerikanischen Exil groß gewesen. Die allergrößte Befürchtung, dass die Studierenden deutschnational oder nationalsozialistisch eingestellt wären, habe sich aber bald als unbegründet herausgestellt – auch wenn, wie Demirović ausführte, »die meisten Dozierenden waschechte Nazis waren«. Zudem seien Horkheimer und Adorno von der Universitätsleitung als »reiche marxistische Juden« gesehen worden. Ihr theoretisches Schaffen habe bei ihrer Rückkehr niemand gekannt.

Warum sich Horkheimer und Adorno, die sich all dem bewusst waren, in dieser von antisemitischen und rassistischen Kontinuitäten geprägten Nachkriegssituation zur Rückkehr entschieden, versuchte Demirović in seiner Studie und an diesem Abend deutlich zu machen. Die umfangreiche Studie entstand, wie er sagte, »in detailverliebter Archivarbeit – ganz im Sinne von Michel Foucault«. Zu Beginn seiner Arbeit habe Demirović nicht viel mit der Kritischen Theorie und der von Habermas und anderen geprägten Sichtweise auf sie anfangen können. Er selbst habe sich eher dem Poststrukturalismus verpflichtet gefühlt.

Adorno sei resigniert gewesen, war laut Demirović in den 90er Jahren das Bild. Dass dem nicht so war, »vermittelte mir beispielsweise auch Adornos langjährige Sekretärin, Frau Olbrich«, führt er aus. »Sie war ausgebildete Radiosprecherin und konnte ganz wunderbar deutsche Dialekte nachahmen. Sie und andere zeichneten ein Bild von einem glücklichen Adorno, der pfeifend durchs IfS lief.« Nicht zuletzt würden auch Briefe zeigen, dass Horkheimer und Adorno die Rückkehr als Chance für theoretisches und intellektuelles Schaffen begriffen.

Deutungskonflikt

Demirović’ Erzählungen über die intellektuelle und theoretische Praxis von Adorno und Horkheimer mündeten in dem Kapitel, das im Zentrum seiner Buchvorstellung stand: »Der Deutungskonflikt um Theorie und Praxis«. So schilderte Demirović, wie der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) aus der SPD ausgeschlossen wurde, seinen Sitz nach Frankfurt verlegte und welche Auswirkungen dies zeitigte. »Durch personelle Überschneidungen, SDS-Mitglieder, die bei Adorno und am IfS studierten, aber auch durch kontingente Ereignisse, bildeten die Kritische Theorie, der SDS und die Neue Linke einen symbolischen Zusammenhang«. Zum Bruch der politischen Praxis mit der Kritischen Theorie, der am 31. Januar 1969 in der Besetzung und Räumung des IfS endgültig zum Vorschein trat, kam Demirović an diesem Abend nicht mehr. »Jetzt habe ich sowieso schon viel zu viel geredet«, sagte er und gab das Mikrofon an die Moderatorin zurück.

In seiner Studie schließt Demirović das Theorie-Praxis-Kapitel damit, dass Adorno selbst »mit den Texten praktisch eingegriffen und Prozesse der Mündigkeit in Gang gesetzt« habe. »Anders als politisches Handeln begreift Adorno Theorie offensichtlich als das zwanglos Allgemeine und auf die Menschheit als Subjekt Zielende.« Schließlich zitierte er Adorno mit: »Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend.« Doch in den konkreten Konflikten der 60er Jahre hätten sich verschiedene und divergente Verwendungsweisen der Kritischen Theorie artikuliert. Wie Demirović herausarbeitet, habe Adorno – kurz vor seinem Tod am 6. August 1969 – zumindest angedeutet, theoretisch darauf reagieren zu wollen.

Berüchtigter Tomatenwurf

Anschließend an die Interviews, die im Rahmen eines aktuellen Forschungsprojekts zu feministischen Perspektiven auf die Geschichte des IfS geführt wurden, fragte Christina Engelmann, ob nicht die autonome Frauenbewegung als Theorie-Praxis-Gegenmodell zur Kritischer Theorie und SDS-Praxis gesehen werden könne. Sie verwies dabei auf die Kritik von Elisabeth Lenk, die 1962 ein Grundsatzreferat zur Neugründung des SDS hielt: »Nach Lenk pfeife der Nonkonformist auf die Welt, doch was er pfeife, sei ihre Melodie.« Engelmann schlussfolgerte, dass auch die eigene Position radikal hinterfragt werden müsse.

Adornos Kritik an der Studierendenbewegung sei unter anderem gewesen, dass die Mitglieder »die Kritische Theorie instrumentalistisch gebraucht« hätten, »um die eigene Praxis zu bestätigen«, wie Engelmann zusammenfasste. Der Aktionsrat zur Befreiung der Frauen kritisierte die männliche Dominanz innerhalb des SDS und so kam es 1968 bei einer Delegiertenkonferenz zum berühmten Tomatenwurf auf Hans-Jürgen Krahl – neben Rudi Dutschke einer der Wortführer des SDS.

In der autonomen Frauenbewegung der 70er Jahre gehörte diese Reflexion der eigenen Positionen in den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen bereits dazu. Durch die Gründung von Frauenzentren, Frauenbuchläden und Vereinen wurden Räumen geschaffen, »in denen die Frauen Erfahrungen artikulierten, die davor nicht auf diese Weise sichtbar waren«. Das Entscheidende, so Engelmann nachdrücklich, war, »dass diese Erfahrungen dann auch die weitere Forschungsarbeit beeinflussten, die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge hinter diesen Erfahrungen zu erforschen«.

Anderson versus Demirović

Auch der heutige Leiter des IfS, Stephan Lessenich, kam am Ende zu Wort. Er würdigte die Arbeit Demirović’, die er als Gegenbuch zu Perry Andersons berühmt gewordenen Essay »Über den westlichen Marxismus« von 1976 begriff. Anderson hatte scharfe Kritik an der Kritischen Theorie geübt und vor allem moniert, dass es durch die Akademisierung zu einem Bruch mit der politischen Praxis kam. Der Essay war erst 2023 in einer Neuauflage erschienen, zu der Lessenich ein Nachwort beigesteuert hatte. Mittlerweile sei die Neuauflage aus dem Verkauf genommen worden, weil Anderson das Nachwort nicht autorisiert hatte. »Es ist nicht überliefert, ob dies aufgrund meines Nachwortes geschehen ist oder Anderson generell eines ablehne«, erzählt Lessenich humorvoll.

»Adorno war vielleicht skeptisch gegenüber der Politik, aber nicht gegenüber Praxis«, bekräftigte Lessenich die Ausführungen von Demirović. Den Anwesenden legte er emphatisch nahe, die neu aufgelegte Studie zu lesen. »Wenn Sie nicht so viel Zeit haben, dann sollten Sie wenigstens das Kapitel über den Deutungskonflikt um Theorie und Praxis mal zur Hand nehmen.«

Alex Demirović: Der nonkonformistische Intellektuelle. Von der kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Mandelbaum, 800 S., br., 38 €.

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