»Ich bin eigentlich aufgeschlossen, aber …«

Die Sozialwissenschaftlerin Monique Ritter erklärt, wie Rassismus den Alltag in der Altenpflege prägt

  • Interview: Fides Schopp
  • Lesedauer: 6 Min.

Monique Ritter, Sie forschen zu Rassismus in der Altenpflege. Einen Fokus legen Sie dabei auf Ostdeutschland. Ausschlaggebend dafür war eine Beobachtung aus Ihrem Alltag. Was haben Sie wahrgenommen?

Ich habe von 2015 bis 2018 als Sozialarbeiterin im Dresdner Gesundheitsamt gearbeitet. Im Rahmen des Sozialpsychiatrischen Dienstes habe ich Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen betreut und Menschen in Krisensituationen. Das war zu einer Zeit, als viele Menschen aus dem westasiatischen Raum und manchen afrikanischen Regionen nach Deutschland flüchteten. Das hat einerseits dazu geführt, dass Menschen mit Fluchterfahrung zu Adressat*innen meiner Arbeit wurden. Andererseits ist mir aufgefallen, dass die geflüchteten Menschen relativ schnell auf der Suche nach beruflichen Perspektiven gesagt haben, sie gehen in die Pflege. Es hat mich interessiert, woher dieser Wunsch oder die Motivation kam. Denn die meisten hatten in ihren Herkunftsländern nicht in der Pflege gearbeitet.

Die Bundesregierung versucht, den Pflegenotstand abzuwenden, indem sie internationale Fachkräfte anwirbt. Sucht sie auch unter den geflüchteten Menschen?

Interview

Monique Ritter forscht mit einer intersektionalen Perspektive unter anderem zu den Themen Rassismus, Ostdeutschland als Transformationsgesellschaft und gender- und diversitätssensible Hochschulentwicklung. Sie ist zurzeit Vertretungsprofessorin für Gender, Diversität und soziale Ungleichheit in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Zittau/Görlitz. Im Januar 2024 ist ihr Buch »Rassismus und Altenpflege in Ostdeutschland. Zum ›Unbehagen‹ in der beruflichen Zusammenarbeit mit Migrant*innen« im Transcript-Verlag erschienen.

Genau, eine Erklärung war, dass das Jobcenter gezielt bei Geflüchteten für die Pflege geworben hat. Zugleich war es die Zeit der Montagsdemonstrationen und der Zunahme an AfD-Wähler*innen. Durch meine Arbeit als Sozialarbeiterin kannte ich viele Meinungen auch von Dresdner*innen, die Altenpflege beanspruchen. Daraus ergab sich mein Forschungsinteresse: Wenn bald vermehrt Menschen mit Fluchterfahrung in der Altenpflege in Dresden arbeiten, auf welche Situation treffen sie?

Für Ihre Forschung haben Sie viele Gespräche mit Leitungs- und Pflegekräften sowie Patient*innen aus der Altenpflege geführt. Sie haben sie nach ihren Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Menschen mit Migrationsgeschichte gefragt. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?

Bei all diesen verschiedenen Akteur*innen ist mir in fast jedem Gespräch relativ am Anfang dieser eine Satz, auch in abgewandelter Form, begegnet: »Ich bin eigentlich aufgeschlossen, aber ...«. Oder: »Ich bin eigentlich nicht fremdenfeindlich, aber ...«. Daraufhin habe mich gefragt, warum meine Gesprächspartner*innen dieses Aufgeschlossensein erst einmal so stark betonen und dann, mit dem kleinen Wort aber sofort wieder einschränken.

Haben Sie herausgefunden, woher dieses Unbehagen und der Widerstand ihrer Gesprächspartner*innen kommt?

Es ist wichtig zu verstehen, dass wir eine ganz andere Ausgangslage in Ostdeutschland haben als in Westdeutschland. Vor 2015 hatten wir in der Landeshauptstadt Dresden – trotz DDR-Vertragsarbeiter*innen-Geschichte – unter fünf Prozent sogenannte statistische Ausländer. Das heißt, die etablierten, weiß und deutsch positionierten Pflegekräfte hatten kaum eigene Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben. Es wurden vielmehr vom Hörensagen Anekdoten erzählt. Zum Beispiel kannten vermeintlich einige einen Pflegedienst, der für 14 Tage einen als Schwarz gelesenen Praktikanten beschäftigte. In den Geschichten darüber wurden dann in erster Linie Probleme mit diesem Menschen skizziert.

Wie erklären Sie sich das?

Wir leben heute in einer postkolonialen Welt, in der rassistische Wissensbestände, die während des Kolonialismus entstanden sind, noch immer wirken und weiterhin reproduziert werden. Trotzdem würde ich davon Abstand nehmen zu sagen, dass alle meine Gesprächspartner*innen absichtlich, bewusste Erniedrigungen geäußert haben, obwohl manche Aussagen offen rassistisch und verächtlich waren.

Wieso gehen Sie davon aus, dass diese rassistischen Äußerungen Ihrer Gesprächspartner*innen nicht immer auch rassistisch gemeint waren?

Oft gibt es gesamtgesellschaftlich kein Wissen darüber, woher solche diskriminierenden Vorurteile kommen und dass ich gerade diskriminiere, wenn ich bestimmte Aussagen tätige. Es sind kolonial-rassistische Stereotype, die heutzutage immer noch wirken. Vor allem über Medien werden sie tagtäglich aktualisiert und gelangen dadurch in die Gedanken und Praxis der Menschen.

Sind Ihnen in Ihrer Arbeit noch weitere wiederkehrende Erzählungen begegnet?

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In den Gesprächen, die ich geführt habe, wurden nach dem »aber« nicht nur rassistische Stereotype hervorgebracht, sondern immer wieder kam es zu Erzählungen von dem eigenen damaligen Wendeerleben oder der Nachwendezeit. Das war ein Phänomen, das mich beeindruckt hat. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mir jemand von 1990 erzählt, wenn ich mich im Jahr 2018 für die Zusammenarbeit mit Pflegekräften interessiere, die eine Migrationsgeschichte haben. Das ist insgesamt ein sehr komplexes Phänomen. Vereinfacht ausgerückt ist es so, dass meine Gesprächspartner*innen, also die weiß und ostdeutsch positionierten Personen, gewisse Ähnlichkeiten zu den vermeintlichen Lebenslagen der geflüchteten Menschen erkennen. Oder zu erkennen glauben.

Wie haben Ihre Gesprächspartner*innen diesen Vergleich geäußert?

Diese Verbindung wird nicht grundsätzlich so benannt, aber im Rahmen der Analyse konnte ich nachzeichnen, dass DDR-Sozialisierte ihre damalige Situation parallel zur vermeintlichen Lage der Geflüchteten setzen. Da geht es um die scheinbare Unfähigkeit DDR-Sozialisierter, sich im bundesdeutschen System zurechtzufinden, weil sie aus einem als rückständig bezeichneten System kommen. Und um die wahrgenommene eigene Abwertung im deutsch-deutschen Diskurs. Diese Parallelen führen allerdings nicht zu Solidarität, sondern eher dazu, dass man diesen Teil von sich selbst nicht so gerne reflektiert – weil er immer noch schmerzt. Bevor also im möglichen geteilten Leid mit den Geflüchteten ein Schulterschluss erfolgt, macht sich Ablehnung breit, weil die geflüchteten Menschen an dieser alten Wunde rühren. Das führt bis hin zu einem Rachebegehren. Vor dem Hintergrund der so empfundenen und faktischen Unterwerfung unter eine westdeutsche Norm um 1990 empfindet man eine gewisse Genugtuung über die Gelegenheit, sich jetzt in einer Vormachtstellung zu wähnen.

Heißt das, Ihre Erkenntnisse zu Rassismus in der Altenpflege beziehen sich nur auf Ostdeutschland?

Nein, rassistische Wissensbestände gibt es in allen westlichen Gesellschaften, auch in der westdeutschen; sie sind Teil der postkolonialen Weltordnung. Aus Theorie und Forschung wissen wir, dass in der DDR eine demokratische Grundhaltung kaum bis gar nicht vermittelt wurde. Zudem hat sich die DDR als antifaschistischer, antirassistischer, solidarischer und weltoffener Staat verstanden und inszeniert. Die eigenen Praktiken gegenüber Vertragsarbeiter*innen wurden tendenziell nicht als rassistisch reflektiert. Es ist deshalb möglich, dass bis heute rassistische Wissensbestände im ostdeutschen Kontext ausgeprägter sind, aber das ist eine Hypothese, die es zu prüfen gilt. Man müsste eigentlich eine ähnliche Forschung im westdeutschen Kontext machen, um annähernd vergleichen zu können, wie und ob rassistische Kontinuitäten dort gebrochen oder transformiert wurden.

Unser gesellschaftlicher Rassismus prägt also auch die Pflegebranche, in der häufig internationale Fachkräfte beschäftigt sind. Wie gehen wir mit dieser Situation um? Haben Sie Lösungsvorschläge?

Bisher wird im Pflegebereich eher gefragt, wie wir interkulturelle Zusammenarbeit erfolgreich gestalten können. Wenn aber von Interkulturalität die Rede ist, werden in der Regel Machtverhältnisse ausgeblendet. Daher müssten wir deutschlandweit in unseren Studien- und Ausbildungsgängen, nicht nur im Pflegekontext, eine kritische Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen und den daraus resultierenden diskriminierenden Praktiken verankern.

Reicht es aus, bei der Ausbildung der Pflegekräfte nachzubessern?

Nein, zusätzlich müsste man an die Pflegebranche, also die Pflegepraxis, herantreten. Man müsste Werbung machen und zu verstehen geben, dass auch kurzfristig durch Weiterbildungen zu Rassismuskritik und Antidiskriminierung die Arbeit eine neue Qualität erhalten kann und sollte. Langfristig könnte das dazu führen, dass die Fachkräfte mit Migrationsgeschichte im Pflegesektor bleiben. Gleichzeitig steht der Pflegesektor unter starken ökonomischen Zwängen. In der Regel sind dort auf Austausch, Begegnung und Reflexion angelegte Momente oder Supervisionen selten. Es findet vielmehr Akkordarbeit statt. Zumindest beschreiben meine Interviewpartner*innen das so. Man müsste also erst einmal anfangen, nach Spielräumen für Lern- und Reflexionsgelegenheiten zu suchen.

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