Berliner Volksbühnen-Intendant René Pollesch ist tot: »Scheiße!«

Der Autor, Regisseur und Intendant René Pollesch ist gestorben

Als man in der Kantine der Volksbühne noch rauchen durfte: René Pollesch 2013 mit Kippe und Smartphone.
Als man in der Kantine der Volksbühne noch rauchen durfte: René Pollesch 2013 mit Kippe und Smartphone.

Unzählige Legenden ranken sich um Berlins Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Die ein Vierteljahrhundert währende Ära unter der Leitung von Frank Castorf war schon ein Teil großer Theatergeschichte, als sie gerade erst begonnen hatte. In sein Intendantenbüro hatte sich Castorf ein Stalin-Porträt gehängt. Als ich René Pollesch frage, der in jener Zeit an diesem Haus groß geworden war und es 2021 als künstlerischer Leiter selbst übernommen hat, wessen Bildnis dort nun stattdessen platziert sein könnte, überlegt er einen Moment, deutet auf die Stelle und sagt schließlich: »Donna Haraway vielleicht.«

Das passt. Der ältere, Ostberliner Bühnenberserker Castorf hat seit jeher seine eigene Strategie verfolgt, die Konsenskultur und bundesrepublikanische Siegermentalität auf rabiate Weise aufzustören. Dafür war und ist Stalin der rechte Gewährsmann. Der jüngere Pollesch hat sich in seinen verkopften Theaterarbeiten immer eher an der leisen, aber nachwirkenden Infragestellung aller Gewissheiten versucht, für die auch die poststrukturalistisch geschulte, sozialistische Feministin Haraway steht.

Dieser theorieverliebte Pollesch wurde 1962 als Arbeiterkind im hessischen Hinterland geboren. Er zählte zum ersten Jahrgang des 1982 von den unorthodoxen Brechtianern Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann ins Leben gerufenen Studiengangs Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Hier lernte er von den Großen: George Tabori, Robert Wilson, Heiner Müller.

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Aber was macht ein diplomierter angewandter Theaterwissenschaftler? Der Weg an die Bühne war vorherbestimmt, der durchschlagende Erfolg war es nicht. Pollesch war in den 90er Jahren arbeitsloser Künstler, finanzierte sich alsbald durch Stipendien. Nach der Jahrtausendwende wurde ihm unter der Ägide Frank Castorfs die Leitung des Praters übertragen, der Nebenspielstätte der Volksbühne, wo er zum stilbildenden, zum prägenden Autor und Regisseur wurde – und auch zum Liebling eines spektakelhungrigen linksintellektuellen Publikums. Das fand er aber nicht nur hier, sondern auch am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, am Burgtheater Wien, am Schauspielhaus Zürich und am Staatsschauspiel Stuttgart.

Wer das Pollesch-Theater erlebt hat, war zunächst baff! Ungeheuer schnell, kurz und kurzweilig, laut und wild ging es zu. Den derzeit an den Bühnen auf ermüdend didaktische und moralistisch aufgeladene Weise geführten Diskurs um Repräsentation – die Frage, wer wen auf einer Bühne darstellen kann und darf – hat Pollesch vor Jahren auf die einzig sinnvolle Art vorweggenommen. Und zwar spielerisch. Da standen plötzlich keine Figuren mehr an der Rampe und deklamierten ihren Rollentext, höchst lebendige Schauspieler wurden zu Ideenträgern und ließen Gedankenwelten aufeinanderprallen. Die Handlung war abgeschafft. Was Pollesch auf der Bühne nicht sehen wollte, waren – wie er sagte – »authentische Kühe«. Bloß keine falschen Tränen.

Wurde das Theater damit nicht zum Hörsaal? Keineswegs. Die Bewältigung von Theorie verhinderte bei Pollesch nicht – nein, sie erforderte gar den unbedingten Willen zur Unterhaltung, zum Slapstick, zum vergeistigten Boulevard. Das Bühnenbild war nicht bloße Dekoration, sondern es spielte mit. Die Souffleusen wurden nicht mehr ins Abseits gestellt, sondern übernahmen mitunter die Hauptrollen. Texthänger wurden nicht mehr überspielt, sie waren ein Ereignis: Da wurde unverschämt »Scheiße!« gebrüllt, und schon kam die virtuose Hilfe bei der Bewältigung der Textmassen.

Die Bühnenkunst des René Pollesch, obwohl oftmals imitiert, blieb unverwechselbar. Sie resultierte auch aus beständigen Kollaborationen. Sophie Rois und Kathrin Angerer, Martin Wuttke und Fabian Hinrichs waren seine wichtigsten Schauspieler. Jahrelang, bis zu dessen frühem Tod, arbeitete er mit dem Bühnenbildner Bert Neumann zusammen. Seitdem bauten Anna Viebrock und Katrin Brack ihm seine Bühnen, Nina von Mechow und Tabea Braun schufen die Kostüme für seine Theaterabende.

Schon die Titel offenbarten oft den Autor-Regisseur dahinter: »Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen«, »Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte«, »Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen« zum Beispiel. Böse Zungen sprachen davon, dass sich sämtliche Inszenierungen letztlich glichen. Dieses Urteil war Folge der oberflächlichsten Beobachtung. Gleich war all seinen Inszenierungen nur die Absage an ein verlogenes bürgerliches Illusionstheater und der Versuch, Gegenwart philosophisch und theatral zu durchdringen. Mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen – mitunter waren sie herausragend und entließen das Publikum ideentrunken aus dem Saal.

Polleschs stolzer Lehrer Hans-Thies Lehmann war es, der mir von dem überwältigenden Zürcher Bühnenspektakel »Bühne frei für Mick Levčik!« und dessen verrätseltem Titel berichtete. Auf den Proben zu dieser Inszenierung, die die Auseinandersetzung mit Brechts »Antigone-Modell« suchte, habe man gemeinsam zunächst »Donald Duck«-Comics gelesen. Der Sammelband »Alles Theater« und die darin enthaltene Geschichte »Bühne frei für Mick Leflic« habe Pate für den Titel gestanden. Die Entstehung eines Kunstwerks bleibt dem Kritiker, dieser ewigen Sekundärbegabung, naturgemäß ein Rätsel – aber hier scheint eine Idee davon auf, wie Theater unter dem Spielleiter Pollesch lebendig wurde. Auch an abgelegenen Stellen suchend, mit Witz, furchtlos. Nur hier konnte Micky Maus auf Bertolt Brecht treffen.

Nach dem politisch gewollten Ende der Intendanz Frank Castorfs und den schlimmen Beschädigungen der Volksbühne in der Folge, war es konsequent, die Leitung des Hauses an Pollesch zu übergeben. Die Erwartungen an ihn waren hoch und so unterschiedlich, dass sie unmöglich alle erfüllt werden konnten. Die Enttäuschungen waren unvermeidlich – und dennoch riefen alle Alternativvorschläge vor allem ein müdes Lächeln hervor. Der Versuch, die Volksbühne zu einem Ort für Künstler zu machen, erlebt nun erneut eine heftige Zäsur.

Überfordernd und doch einladend, intellektuell und dabei überaus unterhaltsam verspielt waren René Polleschs Inszenierungen. Mehrere Hundert Abende hat dieser über alle Maßen produktive Theatermacher verantwortet, der sehr plötzlich, im Alter von nur 61 Jahren, am Montagmorgen verstorben ist. Was dieser Verlust bedeutet – nicht nur für die Volksbühne, sondern für das Gegenwartstheater überhaupt –, lässt sich kaum ermessen.

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