Bedrohtes Zeitungsarchiv in Berlin: Shanghai als rettender Hafen

Weil Land und Bezirk keine Lösung finden, verschifft das Zeitgeschichtliche Archiv seine historischen Presseartikel aus Marzahn-Hellersdorf nach China

Nach China ausgewanderte Ordner: So sah das Zeitgeschichtliche Archiv vor gut einem Jahr im Berliner Osten aus.
Nach China ausgewanderte Ordner: So sah das Zeitgeschichtliche Archiv vor gut einem Jahr im Berliner Osten aus.

Mit der Vernichtung, erzählt Archivchef Harald Wachowitz, hatte man eigentlich schon begonnen. Dann traf sie doch noch ein: die rettende Botschaft. Von einer leer stehenden Industriehalle im Osten Berlins aus sollen Millionen historische Zeitungsartikel die weite Reise nach China antreten. Neue Heimat für das Zeitgeschichtliche Archiv aus Marzahn-Hellersdorf wird die Fremdsprachenuniversität in Shanghai.

»In China ist ja alles ein bisschen größer«, sagt Wachowitz zu »nd«. In den Sammlungen der Universitätsbibliothek sei genug Platz, um rund 95 Prozent der einst über 27 Millionen Zeitungsartikel seines Archivs unterzubringen. Die Erleichterung ist dem Archivchef anzumerken. Was seit 2004 in Marzahn-Hellersdorf lagerte, war auch Deutschlands umfangreichste Presseartikel-Sammlung, an der sich deutsch-deutsche Geschichte nachvollziehen lässt. Ein Großteil stammt aus dem 1971 in der DDR begründeten Institut für internationale Politik und Wirtschaft, das politische Entwicklungen in der BRD erforschen sollte.

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Den Wert des Zeitgeschichtlichen Archivs ließ sich Wachowitz mehrfach von fachkundigen Stellen bestätigen. Helfen konnte trotzdem niemand, als das Archiv einem Neubau der Berliner Opernstiftung weichen sollte. Noch 2021 hatte der damalige Kultursenator Klaus Lederer (Linke) eine Übernahme durch die Berliner Staatsbibliothek befürwortet; zuletzt stand die Unterbringung in einem Neubau des DDR-Museums im Raum. Doch alle Ansätze scheiterten.

Online-Hilferuf bringt die Wende

So aber ist es der digitale Hilferuf einer Freundin des Zeitgeschichtlichen Archivs, der die Wende bringt. Im chinesischen Messenger-Dienst We Chat berichtet sie im März 2023 von der bereits begonnen Vernichtung der historischen Dokumente. »Was dann folgte, war ein Sturm der Hilfsbereitschaft«, sagt Wachowitz: Hunderte Mails und Telefonanrufe aus Asien, aber auch aus den USA und Westeuropa trudeln ein.

Kleine Teile der Sammlung finden so bereits Unterschlupf, vom Schwarzwald bis nach London. Was im Zeitgeschichtlichen Archiv an Zeitungen über die Filmkunst der DDR vorhanden war, tritt die Reise gen USA an, zur »Defa Film Library at University of Massachusetts«. »Es war mir überhaupt nicht klar, dass in Massachusetts zu Defa-Filmen geforscht wird«, sagt Wachowitz.

Bis zur alles entscheidenden Mail dauert es nach dem We Chat-Post gerade einmal 24 Stunden: Ein Professor der Fremdsprachenuniversität in Shanghai bekundet das Interesse seiner Universität, den Bestand zu retten. Nach der Antwort des Archivchefs folgt die Zusage aus China. Das Zeitgeschichtliche Archiv sei »eine Schatztruhe«, von der die Forschung unendlich profitieren könne, schreibt der Professor. »Eine kleine Bitte habe ich noch: Könnten Sie die Teilvernichtung ein wenig aufschieben?«

Bezirk fordert Mietzahlungen ein

Als Wachowitz die Beseitigung der historischen Pressetexte abbricht, sind 20 Kubikmeter Unterlagen vernichtet – nur ein Bruchteil dessen, was auf dem Spiel stand. Bis zum letzten Moment, bevor die übrigen Zeitzeugnisse verschifft werden, hilft Wachowitz beim Konfektionieren. Die Universität in Shanghai finanzierte sowohl das Verpacken als auch den Transport. In China liegt das Zeitgeschichtliche Archiv nun in einem Lager, bevor es in die Bibliothek überführt wird.

»Immerhin wird das Fachpublikum weiter in den Genuss kommen«, sagt Wachowitz, der das Archiv gerne in Deutschland behalten hätte. An der Universität, so hofft er, könnten die Artikel früher oder später digitalisiert werden. Zweifel an der Aufrichtigkeit des chinesischen Interesses hat er nicht. »Der Eigennutz besteht allein darin, das Archiv für Forschung und Lehre zu nutzen. Es gibt keinen faulen Deal.«

Ganz abschließen kann Wachowitz trotzdem nicht. Weil das Archiv länger als vorgesehen in der bis dahin mietfreien Halle geblieben ist, hat der Bezirk Anfang des Jahres Mietzahlungen eingefordert. Bezirksstadtrat Stefan Bley (CDU) versucht derzeit, mit der Senatsfinanzverwaltung eine »auch haushaltsrechtlich belastbare Lösung« zu finden, wie er dem Archivchef schreibt. Wachowitz selbst fehlt es aber an Zuversicht: »Ich bereite mich auf einen Rechtsstreit vor.«

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