Warum Gott die Juden erschuf

Von nervig fragenden Oheims, kühnen Musketieren. vereinten Vorstandschefs und Sozialhilfeempfängern

Ich habe einen Onkel, der auf jede Mitteilung hin ein und dasselbe fragt, und zwar: »Was bedeutet das für die Juden?« – »Morgen sind Wahlen.« – »Was bedeutet das für die Juden?« – »Vor 65 Millionen Jahren sind die Dinosaurier ausgestorben.« – »Nu gut, was bedeutet das für die Juden?« – »Zwei mal zwei sind vier.« – »Aber was bedeutet das für die Juden?« Über diese immer ein und dieselbe Frage regen sich alle wahnsinnig auf und finden den Onkel furchtbar provinziell, als wäre er gerade erst vergangenen Donnerstag aus einem galizischen Schtetl nach Steglitz-Zehlendorf eingewandert auf einem Esel, oder als wäre er sogar selbst ebendieser Esel. Alle regen sich wahnsinnig auf, aber leider kennen alle die Antwort.

Jeder Jude hat so einen Onkel, und wer keinen solchen Onkel hat, der hat einen solchen Oheim. Und jeder solche jüdische Onkel wiederum hat selbst einen Onkel, der immer ein und dasselbe fragt, und so geht es endlos fort, so zieht sich die jüdische diagonale Genealogie. Manchmal ist der Onkel allerdings auch eine Tante oder ein Urgroßvater oder ein alter Freund der Familie, aber jeder Jude hat ihn, diesen Onkel, der immer dasselbe fragt oder von dem man zumindest annehmen muss, dass er es immerzu fragen würde – wenn man ihm denn etwas mitteilte, was man aber gerade deshalb lieber nicht tut.

In Wahrheit habe ich natürlich keinen solchen Onkel, weil das nicht einfach ein Stereotyp wäre, sondern auch noch ein viel zu plumpes. Ich habe aber eine Schwippschwiegerschwägerin, die auf jede Nachricht hin ein und dasselbe sagt, und zwar: »Am Ende sind die Juden wieder schuld!« – »Da ist ein neues Virus im Umlauf …« – »Am Ende sind die Juden wieder schuld!« – »Gegen das Virus ist jetzt endlich ein Impfstoff gefunden worden …« – »Am Ende sind die Juden wieder schuld!« – »Vor 65 Millionen Jahren sind die Dinosaurier ausgestorben.« – »Am Ende sind die Juden wieder schuld!« Über diese immer ein und dieselbe Antwort regen sich alle wahnsinnig auf und finden die Schwippschwägerschwagerin furchtbar pessimistisch, ganz als würde sie nicht alle zehn Jahre anderthalbtausend Euro Reparationszahlungen erhalten. Alle regen sich wahnsinnig auf, aber leider wissen alle, dass sie recht hat, nur wissen es nicht alle sofort, sondern spätestens, wenn es so weit ist.

Ezzes von Estis

Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.

Warum ist es aber irgendwann immer so weit? Dafür müssen wir uns die Geschichte vornehmen. Was immerhin besser ist, als wenn die Geschichte sich uns vornimmt. Leider tut sie es immer wieder, und genau das stellen wir fest, wenn wir uns die Geschichte vornehmen. Bei den Musketieren hieß es: »Einer für alle und alle für einen.« Gab es jüdische Musketiere? Das ist jetzt nicht die Frage, auch wenn die Antwort vermutlich »wahrscheinlich« wäre oder wahrscheinlich »vermutlich«. Bei den Musketieren hieß es jedenfalls: »Alle für einen.« Bei Grönemeyer hieß es: »Jeder für jeden.« Bei Hobbes hieß es: »Jeder gegen jeden.« Heute heißt es: »Jeder gegen Juden.«

Das ist natürlich nicht wahr. Das ist nicht wahr, weil es schon früher so hieß. Aber es ist deshalb doch wahr, weil es heute auch wieder so heißt. Gott hat in seiner unermesslichen Weisheit die Juden geschaffen, um alle anderen miteinander zu versöhnen – gegen die Juden. Vorstandschefs und Sozialhilfeempfänger, Universitätsprofessoren und Schulabbrecher, Ernährungscoaches und Couchpotatoes, Senkrechtstarter und Querdenker, Dieselfahrer und Klimaikonen, Feministinnen und Abtreibungsgegner, Putinfreunde und Erdogauner, Wagenknechte und Chrupallies, Nordostdeutsche und Südwestdeutsche, Kreationschristen und Fundamentalmoslems – und das beste: sogar Juden, nämlich solche, die keine mehr sein wollen. Was aber bedeutet das für die Juden, wenn Juden keine mehr sein wollen? – Im Zweifel immer: nichts Gutes.

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