Lateinamerika: Vom Kakaobauern zum Guerillero

Der 74-jährige ELN-Kommandant Nicolás Rodríguez hat sechs Jahrzehnte in der Guerilla verbracht

  • Raul Zelik
  • Lesedauer: 7 Min.
Kolumbien: Lateinamerika: Vom Kakaobauern zum Guerillero

Wenn man Nicolás Rodríguez Bautista vom Bauernhof erzählen hört, könnte man meinen, seine Kindheit sei idyllisch verlaufen. Sein Geburtsort San Vicente de Chucurí liegt in einem malerischen Kakao-Anbaugebiet im Nordosten Kolumbiens. Hinter der Ortschaft erheben sich die tropisch-üppigen Bergwälder der Cordillera Oriental, eines bis zu 5300 Meter hohen Ausläufers der Anden. Auch die Kleinstadt selbst ist überraschend grün. Die Kakao-Pflanzungen grenzen direkt an die Ortschaft, und wenn die Papaya-ähnlichen Früchte reifen, leuchten sie rot, gelb, orange und lila in den Bäumen.

Doch im Interview erinnert sich der 74-jährige Rodríguez auch sofort an die andere Seite seiner Kindheit: Seine Familie sei immer schon politisch verfolgt worden, erzählt der drahtige und erstaunlich jung gebliebene Guerillero in dem Hotel in Havanna, in dem wir zum Gespräch verabredet sind. »Mein Vater war in seiner Jugend in einer der ersten kolumbianischen Arbeiterorganisationen aktiv, im Movimiento de Artesanos. Er hat uns schon früh politische Ideen vermittelt – dass zwischen Reich und Arm Klassenverhältnisse bestehen und die Armen sich organisieren müssen, wenn sie ihre Rechte durchsetzen wollen.«

Mit 14 zur Guerilla

Der Guerillero, der sich im Rahmen von Friedensverhandlungen mit der kolumbianischen Regierung in Kuba aufhält, lacht auffallend viel, wenn er erzählt – auch wenn es um die tragischsten Kapitel seines Lebens geht. Ja, er sei erst 14 Jahre alt gewesen, als er sich der damals neu gegründeten Ejército de Liberación National (ELN) anschloss. Nein, als Kindersoldat habe er sich nicht gefühlt. »In Kolumbiens Geschichte ist in den letzten 130 Jahren ein Krieg auf den nächsten gefolgt. Die politische Gewalt war auch schon vor der Gründung der ELN in meinem Leben präsent. Ich habe eigentlich ganz gut gewusst, warum ich mich dazu entscheide.«

Anfang der 60er Jahre schien die Revolution in Lateinamerika zum Greifen nahe, in Kolumbien hatte die Oberschicht erst wenige Jahre zuvor den wichtigsten Oppositionspolitiker, den linkspopulistischen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán, ermorden lassen. »Bei uns in der Region gab es eine bemerkenswerte Mischung: Da waren die alten Bauern, die die Gewalt nach der Ermordung Gaitáns 1948 überlebt hatten. Es gab junge Studenten, die von Kuba inspiriert waren. Und eben auch die Erdölarbeiter.« Unweit von Rodríguez’ Geburtsort liegt Kolumbiens wichtigste Erdölstadt Barrancabermeja, die seit ihrer Gründung eine Bastion der kolumbianischen Arbeiterbewegung war.

Natürlich sei es schlimm, dass er fast 60 Jahre seines Lebens im Krieg verbracht habe, fährt der Guerillero fort. »Niemand möchte das. Aber im Unterschied zu vielen anderen Kolumbianer*innen, die in den Krieg hineingezogen wurden, habe ich viel lernen können von den Menschen an meiner Seite – und ihren humanistischen Überzeugungen.«

Tatsächlich unterscheidet sich die Geschichte der ELN erheblich von der anderer Guerilla-Gruppen. Politisch repräsentierte die Organisation immer eine eigenwillige Mischung aus »kubanischem« Marxismus, christlicher Befreiungstheologie und der antiautoritären Tradition der kolumbianischen Kleinbauernbewegungen. Vor allem Kirchenleute gaben der ELN ihr Gesicht: Der Hochschulpfarrer Camilo Torres, dessen außerparlamentarische Massenbewegung das Zwei-Parteien-System Kolumbiens in den frühen 60er Jahren herausgefordert hatte, schloss sich nach Morddrohungen gegen seine Person 1964 der Guerilla an, fiel allerdings schon wenige Monate später bei seinem ersten Gefecht.

Einfluss der Befreiungstheologie

Camilo Torres, der seine Entscheidung für den bewaffneten Kampf mit den Worten begründet hatte, »Nächstenliebe« müsse auch »wirksam werden«, trug entscheidend zum Entstehen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie bei und prägte eine ganze Kirchengeneration. Nach seinem Tod schloss sich eine ganze Reihe Pfarrer und Nonnen der ELN an. Der spanische Priester Manuel Pérez stand mehr als 20 Jahre an der Spitze der Guerilla-Organisation, bis er 1998 an den Folgen einer Hepatitis starb.

Sein Nachfolger Nicolás Rodríguez ist nicht besonders gläubig, aber spricht viel von den Pfarrern, mit denen er sich im Urwald versteckte. »In unseren Camps ist die menschliche Seite immer sehr wichtig gewesen. Es ging bei uns weniger orthodox zu als in anderen Organisationen. Natürlich spielt militärische Disziplin auch in der ELN eine wichtige Rolle. Aber die Hierarchien sind bei uns viel weniger ausgeprägt.« Man habe immer Wert darauf gelegt, sich trotz der Kriegsgräuel die Menschlichkeit zu bewahren, behauptet er und fügt hinzu: »Sonst hätten wir die vielen Jahrzehnte auch nicht überlebt.«

In der kolumbianischen Öffentlichkeit dürfte diese Schilderung auf heftigen Widerspruch stoßen. Das Image der ELN ist ähnlich schlecht wie das der kommunistischen FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens), die sich 2016 in einem Friedensabkommen mit der Regierung demobilisierten, in eine Partei umwandelten und bei den Wahlen zuletzt weniger als ein Prozent der Stimmen erhielten. Auf meine Frage, ob sich Kolumbiens Guerilla mit ihrer Gewalt nicht längst von der Bevölkerung entfremdet habe, wiegt Rodríguez den Kopf. Seiner Ansicht nach sei es vor allem die Kriegführung der Gegenseite gewesen, die diese Entwicklung beförderte. »Seit den 70er Jahren führt der Staat Krieg gegen die sozialen Organisationen. Paramilitärs und Armee attackieren Bauernorganisationen, Gewerkschaften, Linksparteien, Menschenrechts- und Umweltgruppen. In den Militärhandbüchern wird das ausdrücklich gelehrt: ›Dem Fisch soll das Wasser entzogen werden.‹«

Der Beobachtung, dass die Kriegführung des kolumbianischen Staates in Lateinamerika ihresgleichen sucht, lässt sich kaum widersprechen. Obwohl das südamerikanische Land formal immer eine Demokratie geblieben ist, war die Aufstandsbekämpfung hier besonders brutal. Seit 1980 wurden mehrere Millionen Bäuer*innen aus Regionen vertrieben, die als Bastionen der Guerilla gelten. Die offizielle Wahrheitskommission der Regierung spricht zudem von einer halben Million Menschen, die im Rahmen des Krieges ermordet wurden. Ein großer Teil der Toten geht dabei auf das Konto paramilitärischer Gruppen, die die Zivilbevölkerung mit Massakern einzuschüchtern versuchten. Auf diese Weise sollte jeder Kontakt zwischen Guerilla und Bewohner*innen unterbunden werden.

Dem Krieg die Grundlage entziehen

»Wenn wir allerdings so isoliert wären, wie man es uns nachsagt, gäbe es uns schon lange nicht mehr«, gibt sich Rodríguez überzeugt. »Ein wichtiger Teil unserer Mitgliedschaft ist unbewaffnet und in Basisbewegungen aktiv. Wir sind heute in erster Linie eine politische Organisation.« Doch wahr an der Kritik sei natürlich, dass die ELN nicht beanspruchen könne, die Bevölkerungsmehrheit zu repräsentieren. »Deswegen glauben wir auch nicht an einen Friedensprozess, bei dem die Guerilla bilateral mit dem Staat verhandelt. Wir wollen eine Art ›nationalen Dialog‹, bei dem sich die kolumbianische Gesellschaft über notwendige Reformen verständigt.« Ziel müsse sein, dem bewaffneten Konflikt die Grundlage zu entziehen. »Solange die sozialen Ursachen der Gewalt fortbestehen, nützt es nichts, wenn die Guerilla ihre Waffen abgibt. Dann entstehen nur wieder neue aufständische Gruppen.«

Der Friedensprozess mit den Farc scheint Rodríguez’ These zu bestätigen. Die Kommandant*innen von Kolumbiens größter Guerilla erhielten 2016 im Rahmen des Abkommens Posten im politischen Establishment. Doch viele untere und mittlere Kader der Farc-Guerilla sahen für sich keine Zukunft und führten den Krieg auf eigene Faust fort. Heute gibt es im Land zahlreiche sogenannte »Farc-Dissidenzen«, bei denen politische Überzeugungen keine Rolle mehr spielen.

Was den eigenen Lebensabend angeht, hegt Guerilla-Kommandant Rodríguez keine großen Erwartungen. Man müsse vor Augen haben, dass gesellschaftliche Prozesse viel länger dauerten als ein Menschenleben, betont er. An einen Friedensprozess, bei dem er in seinen Heimatort zurückkehren kann, um wie in der Kindheit Kakao anzubauen, glaubt er nicht. Im besten Fall werde es soziale und demokratische Reformen geben, die das Land nach und nach friedlicher machen. Eine erste Grundlage dafür wurde gelegt. Im Juni 2023 unterzeichneten Kolumbiens Regierung und die ELN-Guerilla in Havanna einen Waffenstillstand, der unlängst um ein halbes Jahr verlängert wurde. Dass Kolumbien mit Gustavo Petro erstmals einen linken Präsidenten hat, sei selbstverständlich wichtig, sagt Rodríguez, aber garantiere eben noch lange keine politische Lösung. Bisher habe die Rechte nämlich alle Reformvorhaben des Präsidenten blockiert (siehe auch das Interview in dieser Nummer).

Wie fällt vor diesem Hintergrund die persönliche Bilanz von 60 Jahren revolutionären Kampfes aus? Verbittert sei er nicht, sagt Rodríguez und lacht schon wieder – der Krieg sei schrecklich, aber die Entscheidung, sich der Guerilla anzuschließen, finde er auch heute noch richtig: »Das Volk, die Armen haben ein Recht auf Rebellion.«

Im Juli dieses Jahres wird die ELN 60 Jahre alt. »Ich hab schon ein Lied geschrieben«, sagt Rodríguez. Zu besonderen Anlässen nimmt der Guerillero einen Song mit der Gitarre auf – das liegt ihm näher, als Reden zu halten. Es ist wohl seine persönliche Art, mit der Orthodoxie zu brechen.

Buch

2017 schrieben die beiden ELN-Kommandanten Nicolás Rodríguez und Antonio García ein autobiografisches Buch »Predigt und Patronen« über ihre Organisation. Darin erzählt werden auch die ganz persönlichen Geschichten eines Bauern­daseins in Kolumbien, die ein anderes Licht auf den kolumbianischen Bürgerkrieg werfen.Antonio García/Nicolás Bautista: Predigt und Patronen. Eine Geschichte der ELN-Guerilla in Kolumbien. Bahoe Books, 176 S., geb., 15 €.

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