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Yandé Seck: Geschrieben, geheult, gelesen, geheult

Yandé Seck über ihren Roman »Weiße Wolken«, schwarze und weiße Perspektiven, Intellektualität und Trash TV

  • Interview: Isabella Caldart
  • Lesedauer: 7 Min.
Öffentlich über Privates sprechen, das können wir gut.
Öffentlich über Privates sprechen, das können wir gut.

Wir sitzen im Glauburg Café mitten im Frankfurter Nordend, das in Ihrem Roman eine Rolle spielt, auch sonst werden viele Straßen-, Café- und Restaurantnamen erwähnt; man könnte »Weiße Wolken« als eine Art Stadtguide lesen. Wieso haben Sie dieses Setting gewählt?

Zuerst einmal ist es mir total vertraut, ich bin 200 Meter Luftlinie von hier in die Grundschule gegangen. Während des Schreibens saß ich in meiner Wohnung in Offenbach und konnte im Nordend quasi in meinem Kopf spazieren gehen. Dass viele Szenen in Cafés und Bars spielen, war aber eher ein unbewusster Akt. Es ist oft so, dass sperrige, theoretische Sachen mit Freund*innen in einem Café besprochen werden. Das sind Orte, an denen man sie in den Alltag holt. In der Lehre frage ich meine Studierenden gerne, wie sie einen komplizierten Sachverhalt einer Freundin beim Kaffee erklären würden. Mich interessiert außerdem, wie sich konkrete Orte verändern. Im Buch kommt etwa die Festhalle vor – erst ist sie Corona-Impfzentrum, dann findet dort die Stand-Up-Show von Trevor Noah statt. Wenn du lange genug irgendwo wohnst, wird ein Ort umgedeutet. Und zuletzt ist das Nordend ein bisschen wie eine Hyper-Bullerbü-Welt, die Zuspitzung von einem ganz bestimmten Lifestyle.

Interview
Yandé Seck

Foto: kiwi-verlag.de

Yandé Seck ist 1986 in Heidelberg geboren, lebt heute in Offenbach, wo sie als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche arbeitet, außerdem lehrt sie an der Goethe-Universität Frankfurt. »Weiße Wolken« (KiWi Verlag) ist ihr Debütroman.

Sie kommen eigentlich aus der Wissenschaft. Gab es einen konkreten Auslöser, warum Sie sich dazu entschieden haben, einen Roman zu schreiben?

Sie sagen das so einfach, ich komme aus der Wissenschaft. Ich bin in die Wissenschaft gegangen und habe mich zunächst fremd gefühlt; ich kann auch nicht behaupten, dass ich in der Psychotherapie von Anfang an zu Hause gewesen wäre. Ich finde es generell spannend und auch total wichtig, sich die gesellschaftlichen Einwirkungen stärker anzugucken, im Gegensatz zu diesem individualisierenden Blick, den wir in der Psychotherapie haben. Es gibt einen schönen Satz von Maya Angelou, laut dem man sich gleich, wie viel man über Menschen vergisst, immer daran erinnern wird, was für ein Gefühl sie in einem ausgelöst haben. Wenn man jetzt an die Wissenschaft denkt, kommt genau das viel zu kurz. Als ich Sally Rooney für mich entdeckt habe, die Intellektuelles mit Intimität verbindet, dachte ich: Ach, das darf man also auch machen! Das hat mir eine Tür geöffnet. Ich habe zunächst kleine Schnipsel geschrieben und die an Weihnachten 2020 meiner Familie zu lesen gegeben. 2021 während des Lockdowns habe ich mir gesagt: Jetzt nutze ich die Zeit und setze mich dran.

Was hat es mit den titelgebenden weißen Wolken auf sich?

Wenn man sich Fingernägel anschaut, sieht man gerade bei Kindern häufig kleine weiße Flecken. Man kann sie Leukonychia punctata nennen oder eben weiße Wölkchen. Dass diese Wölkchen eigentlich Verletzungen sind, ist eine wunderbare Analogie für gesellschaftliche Verhältnisse, die sich in uns Menschen niederschlagen, Spuren hinterlassen. Ich habe über Weißsein nachgedacht. Die »weiße Rasse« musste erst einmal erfunden werden – ein wahnsinniges Gedankengebäude. Man hat ein bestimmtes Erscheinungsbild in die Nähe von Reinheit, etwas Sakralem gerückt. Ich habe mich irgendwann gefragt, was eigentlich wirklich – und das bei allen Menschen gleich welcher Ethnie – weiß ist. Zähne zum Beispiel, aber »White Teeth« ist ja schon besetzt (lacht).

Du spielst auf Zadie Smith an, in »Weiße Wolken« geht es unter anderem auch um Frantz Fanon oder Freud, aber ebenso um das Datingformat »Love Island«, du vereinst intellektuelle und popkulturelle Themen…

Das sind genau die Themen, die mich interessieren. Mir ist zum Beispiel total sympathisch, dass Salman Rushdie Mangas liebt und dadurch in der gleichen Welt lebt wie mein 17-jähriger Sohn. Wenn jemand komplex denken und sich den großen Fragen der Menschheit zuwenden kann, aber sich auch für ganz alltägliche Sachen interessiert und nicht so tut, als würde er immer zwei Zentimeter über dem Boden schweben, finde ich das toll. Mich hat auch gereizt, das ein wenig zu brechen, verschiedene Themen zusammenzubringen.

Zwei der drei Erzähler*innen sind Schwarze Schwestern, ihr Altersunterschied beträgt rund acht Jahre, die eine ist aber eher mit ihrem bürgerlichen Leben und Alltag beschäftigt, die andere mit antirassistischen Diskursen. Hatten Sie diese zwei Pole von Anfang an so angelegt?

Ich persönlich bin in beiden Feldern unterwegs. Wenn ich mit rassismuskritischen Wissenschaftler*innen rede, die das Privileg haben, mit Ruhe in Texte und Theorie einzutauchen, ist das was anderes, als ich in meiner Arbeit als Therapeutin in Offenbach erlebe. Andererseits glaube ich, gibt es im therapeutischen Arbeiten eine totale Blindheit dafür zu erkennen, dass etwas gesellschaftlich entstanden ist. Gerade wenn wir von Race sprechen, fällt man oft auf ein total unreifes Niveau zurück. Der öffentliche Diskurs in den letzten Jahren hat mir einen Raum gegeben, und das ist im Roman bei der Figur Zazie gelandet: Rebellion, Ärger, was auch clasht mit Dieos Leben. Zazies Verhalten ist sicher ein wenig adoleszent, aber das Schöne an der Fiktion ist ja, dass man eine Figur mal ausflippen lassen kann.

Dieo hingegen ist viel ruhiger.

Vom Naturell bin ich ihr viel ähnlicher. Sie bewegt sich mehr in den gesellschaftlichen Grenzen dessen, was man machen darf. Es sind einfach unterschiedliche Lebensrealitäten. Wenn ich als Schwarze Frau spreche oder schreibe, werden ganz viele Räume, in denen ich mich bewege oder die ich für mich abstecke, beschnitten und geformt. Es wird zum Beispiel erwartet, dass ich mich mit Afrika auskenne, am besten mit dem ganzen Kontinent. Es entsteht häufig der Wunsch oder sogar Anspruch, durch Autor*innen Afrika kennenzulernen. Dadurch befindet sich die Deutungshoheit schon wieder in den Händen von anderen.

Der dritte Erzähler neben Dieo und Zazie ist Simon, ein weißer Mann. War es schwierig, diese Perspektive anzunehmen – oder gar nicht, weil die Mehrheitsgesellschaft einem zeigt, wie es ist, ein weißer Mann zu sein?

Beides. Wenn man das Ganze umdreht, würde ich sagen, Colum McCann, der in »Die große Welt« über die in den 1970ern lebende Schwarze Prostituierte Tillie schrieb, brauchte mehr Recherche, und er hat das grandios gemacht. Gleichzeitig war es total interessant, mich auf diese Art in Simon hineinzuversetzen, weil mir die Handlung verwehrt, ihn einfach als typischen mittelalten weißen Mann abzutun. Sein Verhalten ist auch eine Frage seines Referenzrahmens – Simon ist Städter und progressiv. Und dann kommt viel seines Weges, bei dem er trotzdem denkt: Hä, mache ich immer noch alles falsch? Das ist natürlich mit Verunsicherung verbunden. Und diese unangenehmen Gefühle auszuloten, finde ich spannend.

Der rassistische Anschlag von Hanau spielt auch eine kleine Rolle. Ist es, wenn man über Frankfurt und Offenbach – gerade im Kontext von Rassismus – schreibt, quasi zwangsläufig, Hanau zu thematisieren?

Vor vier Jahren musste ich das erstmal in eine Box packen und irgendwie zurück in den Alltag finden. Aber vielleicht ist es schon so, dass man durch die geografische Nähe ein anderes Gefühl der Verantwortung hat, sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen. Mir war es ein Anliegen, auch tröstliche Worte zu finden. Ich bin anderen sehr dankbar dafür, wenn sie sich stellvertretend für uns alle mit Traumatischem befassen. Literatur ist auch da, um Zugang zu schaffen. Lukas Bärfuss zum Beispiel hat sich durch die ganzen Archive gearbeitet und dann einen Roman über die Hutu und Tutsi geschrieben (»Hundert Tage«, Anm. d. Red.), während ich mich bei der Brutalität bestimmt hätte übergeben müssen. Er hat sich diese Arbeit gemacht und sie uns zur Verfügung gestellt. Über Hanau zu schreiben hat mich zwei Wochen gekostet, in denen ich es immer wieder versucht habe, geschrieben, geheult, nochmal gelesen, geheult. Nur so war das überhaupt möglich. Da versteht man auch, warum Schreiben eigentlich ein Vollzeitjob ist.

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