Christoph Hein: Die Scheu ist ein Stahlseil

Zum 80. Geburtstag des Erzählers und Dramatikers Christoph Hein

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Nicht nur in seiner Literatur, auch im öffentlichen Reden ist der Schriftsteller Christoph Hein ein Fordernder.
Nicht nur in seiner Literatur, auch im öffentlichen Reden ist der Schriftsteller Christoph Hein ein Fordernder.

Ja oder nein – eine genetische Grundfrage: Wirst du im Leben hauptsächlich ein Zustimmender, oder wird dir die Distanz zum ureigenen Format? Christoph Hein: »Noch bevor ich in der Lage war, mir ernsthaft die Frage zu stellen, ob und wie ich mich in die Gesellschaft einbringen sollte, teilte mir der Staat mit, dass er auf meine Mitarbeit keinen Wert lege.« Ein Pfarrersohn in der DDR: keine Abiturchance. Er ging, im Osten wohnend, in Westberlin zur Schule und würde bald endgültig fliehen.

Der Mauerbau aber besiegelte die Zwangsbleibe im ungeliebten, anmaßenden »Zwergstaat«. So übte sich eine Seele beizeiten ein – in jene besagte Distanz. Die »einzig mögliche« Grundhaltung für einen Intellektuellen. Und dessen ethische Verantwortungspflicht? »Er muss vermelden, was er erfuhr. Er hat rücksichtslos zu berichten, das ist eigentlich schon alles.« So wurde Hein zu einem markanten deutschen Schriftsteller.

Er schildert in seinen Büchern Menschen in zerbrechenden Schutzräumen. Zwischen Einzelnem und pressender Gesellschaft ist das fordernde Abenteuer geschaltet: leidend die wahre Lage zu erkennen – aber dennoch liebend, lichtsuchend zu bleiben. In der Erzählung »Der fremde Freund« zum Beispiel gibt es jene Ärztin Claudia, die in den öden DDR-Zeitungen nur noch die privaten Kleinanzeigen liest – eine Abkehr von der herrschenden Großlüge, eine Ausreise nach innen. Das, was man tut, kann eine große Kraft sein, aber das, was man entschieden nicht mehr tut, die größere.

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Schriftstellerkollege Ingo Schulze erinnert an jene ostdeutsche Aufbruchszeit, als Gorbatschow, der große Held des Rückzugs, die Herzen aufrührte, und Schulze nennt Heins Roman »Horns Ende« von 1985: »Literatur, die uns Raum verschaffte zum Atmen, zum Sprechen. Schritte, hinter die es nicht mehr zurückging.« Romanheld Horn geht an SED-Kaltherzigkeit zugrunde – als stünde die Pflicht zum absurd Kafkaesken im Parteiprogramm. Das Schicksal des Buches: zwei Jahre Kampf gegen die Zensur. Dann ließ Elmar Faber, Chef des Aufbau-Verlages, einfach drucken. Ohne Erlaubnis. Ein einmaliger Vorgang. Die Obrigkeit forderte daraufhin eine »Lösung des Falles Hein«, also: Weg mit Schaden, am besten über die Grenze! Klassisch zynisch. Herrschaft eben. Hein blieb.

Dem 1944 im schlesischen Heinzendorf Geborenen war die Scheu stets wie ein sehr haltbares Stahlseil. Er ist ein spröder Protestant, der mit Besonnenheit – was kein Gegensatz zur Entschiedenheit ist – in die jeweilige Runde tritt und spricht. Ja, auch spricht. Nicht nur in seiner Literatur (»Der Tangospieler«, »Willenbrock«, »Landnahme«, »Frau Paula Trousseau«, »Weiskerns Nachlass«), sondern auch im öffentlichen Reden ist der Schriftsteller ein Fordernder. Ausgebildet in der einzig gültigen Lehr- und Lernstätte – der Schule des Selbstversuchs.

Auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR 1987 sagte Hein mutig: »Zensur ist ungesetzlich, denn sie ist verfassungswidrig.« Leipzig, seine Studienstadt, rief er im November 1989 auf der historischen Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz als Heldenstadt aus; sein Stück »Die Ritter der Tafelrunde« war zuvor in Dresden zum zornzündenden Gleichnis auf die SED-Agonie geworden. Der Zorn wich dem Schriftsteller auch in neuer deutscher Zeit nicht. Er war erster Präsident des wiedervereinigten PEN-Clubs. Sein Engagement stand für eine vergebliche Hoffnung: Mit dem Ende der DDR könne es zu einer Zeit der gegenseitigen Aufklärung und Ergänzungen kommen. Nichts da.

In seinem Werk gibt es eine Gemessenheit, die doch heftigst ausschlägt; es gibt eine Wahrnehmungspräzision, deren gleichmäßiger Puls doch ein Beben erzählt. Störrische Vernunft stößt sich ab von höriger Gläubigkeit an herrschende Regeln des Verhaltens. Im Roman »In seiner frühen Kindheit ein Garten« ist es der ehemalige Gymnasialdirektor Richard Zurek, der sich abstößt. Sein Sohn, in der Bundesrepublik seit Jahren im antistaatlichen Untergrund, war zu Tode gekommen. Erschossen? Selbstmord? Der alte Westdeutsche Zurek wird auf der Suche nach diesem Sohn, den er lang vor dessen Tod verlor, auch den Glauben an jene Ordnung verlieren, der er treu gedient hatte.

Dieser Roman ist das vielleicht rebellischste Buch von Hein. Zurek muss erkennen, dass Irrtümer aus Loyalität die schlimmsten sind. Dieses Erschrecken durchfrisst die Banalität der alltäglichen Abläufe, es zermürbt. Am Ende widerruft Zurek vor Schülern seines ehemaligen Gymnasiums seinen Beamteneid: »Ich habe geschworen, das Grundgesetz und alle Gesetze des Landes gewissenhaft zu wahren. Da der Staat aber seine eigenen Gesetze nicht wahrt, bin ich von meinem Amtseid entbunden.«

Wenn vom Romancier Hein gesprochen wird, muss auch vom Dramatiker die Rede sein. Das Buch mit den gesammelten Stücken hat 726 Seiten. Es vereint 16 Schauspiele. Der Autor kommt also vom Theater – das Paradoxe freilich besteht darin, dass die Dramaturgien sich irgendwann kaum mehr seiner Stücke, sondern vorwiegend seiner Romane bemächtigten.

Das Stück »Cromwell« (1980) beschreibt den Weg eines Idealisten zum Diktator. In der DDR-Premiere in Eisenach (gezielt abseits von Berlin) sitzen Angehörige des »Grenzkommandos Süd«. In Uniform. Hein erschrickt. Bei einem Gespräch nach der Vorstellung: Man starrt den Autor wortlos an. Erhöhter Puls. Der ranghöchste Offizier: Er sei fassungslos über das, was Hein da geschrieben habe. Stille im Saal. Vernichtung? Aber dann der Nachsatz des Kommandeurs: Er empfinde genau, »was ich in Worte gefasst hatte« (Hein), Grenzschutz sei sinnlos, »da nichts mehr zu verteidigen sei«.

Die Treuesten als die Verzweifeltsten – das Ideendrama DDR als Tragödie, ausgebrochen in Treue-Herzen, die auch eine Uniform nicht mehr vor Kapitulation schützte. Kapitulation nämlich vor der bitteren Wahrheit. Heins Theater ist nicht flirrendes Schillern, dafür aber flammend Schiller. Und Schiller ist: Sinnlichkeit des Arguments. Gegen das Vergessen. Und dieses Vergessen beginnt bei fragwürdiger geschichtlicher Erinnerung – die fatal guttut, weil sie schönfärbt. Man lese zum Beweis die Memoiren einst Mächtiger (auch der DDR): Oft fehlt darin Charakter, um in die Asche der eigenen Jahre zu sehen.

Ich denke an Heins Roman »Trutz«. Das 20. Jahrhundert in zwei sich kreuzenden Familiengeschichten. Der Große Terror in der Sowjetunion. Ein Erzählen entlang einer kalten, von Einschüssen durchsiebten Mauer: dem Stalinismus. Dieser Zwangsenthusiasmus einer Kaderpartei, die Millionen zu Duldenden erzog und sie von Quellen der Selbstachtung abschnitt. Diese Ausspitzelung der eigenen Gefolgschaft. Diese böse Neigung zum kurzen Prozess. Die Wahrheit: mundtot. Ein einziger Ton aber lässt sich nicht tilgen, es ist das mächtige Schweigen der Opfer. Dieser Ton reist als Dauerton durch das Buch. Und durch die Zeiten. Auch durch unsere Gegenwart.

Heins erzählerisches Werk bietet bohrende Geschichten über ein oberstes Gebot des bewahrenswert Bürgerlichen: Sinn zu behalten für den Rang des Individuellen. Das Schwerste als das Kulturvollste: Wer sich gegen die Welt nicht wehrt, empfindet sie nicht. Das ist Literatur gegen jene, an deren Bewusstsein eine Vignette klebt: Dauerstellplatz auf der politisch richtigen Seite. Deutsche Geschichte? Was einzig zählt, ist die Steinbruchrechnung; gültige Urteile spricht einzig das Scherbengericht.

Auch Gedichte schreibt Hein. Einige hat Hans-Eckardt Wenzel vertont und gesungen, »Masken« heißt die CD. In einem dieser melancholischen Verse: die selbstironische Auskunft des Schriftstellers, was er so im Lauf des Lebens von der Welt verstanden habe – »nur wenig und alles zu spät«. Am 8. April wird Christoph Hein 80 Jahre alt.

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