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Im Tegeler See allein

Angelvergnügen, Familienbaden, Schwimmen, aber auch Prügeleien, Selbstmorde und Badeunfälle. Der Tegeler See hat schon viel gesehen

Das Strandbad am Tegeler See war Anfang Mai noch fast menschenleer.
Das Strandbad am Tegeler See war Anfang Mai noch fast menschenleer.

Der Wind fegt Wellen über den See, es ist sonnig und kalt zugleich. Eine Viertelstunde versuche ich zu schwimmen, verschlucke mich mehrfach und treibe schließlich mit ausgebreiteten Armen in Ufernähe. Die Sicht unter meiner Schwimmbrille ist gut. Grünlich schimmernde Muscheln glänzen wie eingecremt. Ich sammle ein paar als Andenken und wate hinaus. Auf dem abgesperrten Sprungturm sitzen drei Kormorane, am Strand fährt ein Mann mit einer Schubkarre Laub und Strandgut weg. Er mustert mich überrascht, als ich aus dem Wasser komme. Nur zwei Klappliegen sind besetzt, die Holzstühle stehen verwaist im Sand. Eine Ente fliegt an mir vorbei. Schwalben kreuzen über uns am Himmel. Es gibt am Eröffnungstag der Badesaison mehr Vögel als Menschen im Strandbad Tegeler See.

Weil ein Gletscherbrocken nach der Eiszeit eben mal tausend Jahre liegen blieb, haben wir in Berlin einen mächtigen See, der eigentlich eine Ausbuchtung der Havel ist. Auf diesem See gibt es Inseln mit Schulfarm und Kleingärten, Ausflugsschiffe, Angelkähne und Fähren. Als ich an einem Mittwoch im Mai mit dem Bus um den halben See fahre, sehe ich viel Wald. Über Hügel und sandigen Boden geht es durch den Tegeler Forst zum Strand. Es ist schattig und einsam im Wegegewirr, ab und an raschelt eine Amsel im Unterholz. Ein Buntspecht knarrt vom Schwarzspechtweg herüber. Gerade, als ich mich gruseln will, kommen der Parkplatz und das alte blau-weiße Schild des Strandbades in Sicht.

Über Wasser

Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.

Seit mindestens 160 Jahren wird im See gebadet, zog es Menschen aus der Stadtmitte hierher. Der Industrielle Schwartzkopff ließ sich eine Villa bauen, deren Zimmer Sommerfrischler mieteten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gab es auf der Seeseite des südlichen Tegeler Forstes verschiedene Badeanstalten, Umkleidekabinen, Steg, Restaurant und Bootsverleih. Erwerbslose durften in den 1920ern die städtische Badeanstalt werktags von 13 bis 16.30 Uhr kostenfrei nutzen, ein Zeltlagerverein bot Übernachtungen mit Kochgelegenheiten. Zehntausende Berliner*innen verbrachten ihre Sommer am weißen Havelstrand. Angelvergnügen, Familienbaden, Schwimmen unter Bühnenstars wie Fritzi Massary, Prügeleien, Selbstmorde und Badeunfälle eingeschlossen.

Der Badebetrieb lief unter verschiedenen Pächtern und Neubauten bis zur Stilllegung durch die Berliner Bäder-Betriebe 2016, seit 2021 wird das Strandbad vom Verein Neue Nachbarschaft/Moabit e.V. minimalistisch betrieben. Gegen geringen Eintritt (5/3 €) erhält jeder Berliner Mensch ein Stück vom Glück – nebst Kunst! Letztes Jahr gab es ein Artis-in-residence-Programm, Lesungen und Workshops.

Böen treiben weißen Sand durch die Holzpavillons bis auf die Straße. Als ich erfrischt heimwärts zum Bus wandere, jault ein abgestorbener Baum am Wegesrand auf. Ich ziehe mein Badetuch fest um die Schultern und denke an Goethe. Einst kehrte der Dichter unweit im Gasthaus zum »Alten Fritz« ein und hörte Spukgeschichten von nächtlichem Gepolter in der Oberförsterei am Tegeler See, über die er im »Faust I« spottete. Ich singe laut und falsch »im Prinzenbad allein«, gleich geht es mir besser.

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