Malen mit Zahlen

Gesundheitsminister Lauterbach schlägt Alarm, zeigt aber keinen Ausweg aus der Pflegekrise

In mehr als 80 Prozent der Fälle wird in der Familie gepflegt.
In mehr als 80 Prozent der Fälle wird in der Familie gepflegt.

Von einem überraschenden, geradezu explosionsartigen Anstieg neuer Pflegebedürftiger hatte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am Montag gesprochen. Zugleich riegelte der Politiker die Türen zu: Weder werde es weiterhin das jetzige Leistungsniveau in der Pflege geben, wenn es bei dem aktuellen Beitragssystem bleibe. Noch werde eine umfassende Finanzreform vor den nächsten Bundestagswahlen zu schaffen sein, vor allem, weil sich die Koalitionspartner da wohl nicht einigen könnten. Nachdem die Bevölkerung, vor allem die schon jetzt oder absehbar Pflegebedürftigen und ihre Familien so in Angst und Schrecken versetzt wurden, nahmen einige Krankenkassen diesen Aufschlag dankbar an.

Gesetzlich Versicherte müssten sich Anfang 2025 auf eine weitere Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge einstellen, hieß es schnell. Das sei auch rein technisch nicht anders zu erwarten, wie etwa der Verband der Ersatzkassen in Nordrhein-Westfalen erklärte. Die Finanzmittel für das erste Quartal würden dann insgesamt geringer sein als eine Monatsausgabe der Pflegekassen, die Bundesregierung dürfte hierauf den Beitragssatz per Rechtsverordnung anheben. DAK-Vorstandschef Andreas Storm nannte schon Zahlen: »Nach derzeitigem Rechenstand« wären zum Jahreswechsel etwa »zwei Beitragszehntel« mehr zu berappen. Derzeit liegt der Beitragssatz bei 3,4 Prozent des Bruttoeinkommens, für Kinderlose bei 4 Prozent. Beschäftigte und Unternehmen tragen den Beitrag – ohne den Kinderlosenzuschlag – zur Hälfte, also jeweils 1,7 Prozent. Diese 0,2 Prozentpunkte mehr klingen erst einmal harmlos. Jedoch wäre damit nur gerade einmal so der Ist-Stand der Versorgung finanziert, der aber ohnehin schon in vielen Teilgebieten der Pflege prekär ist.

Eine grundsätzliche Frage ist jedoch, wie die von Minister Lauterbach genannten Zahlen einzuordnen sind. Die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) haben die jetzt alarmistisch vorgetragenen Werte schon seit Längerem berechnet. Spätestens Anfang April war die Zunahme um insgesamt 360 000 Pflegebedürftige für das Jahr 2023 relativ sicher. Jedoch ist dieser Anstieg nicht so überraschend, wie suggeriert wird. Laut GKV-Spitzenverband stieg die Anzahl neuer Pflegebedürftiger seit 2017 im Durchschnitt um etwa 326 000 pro Jahr. Damit gibt es zwar einen Anstieg gegenüber 2022, aber nach dieser Rechnung nur um 34 000 Menschen. Das Gesundheitsministerium hatte für 2022 einen leicht niedrigeren Wert genannt, nämlich 270 000 neue Pflegebedürftige. Aber auch dann läge die Differenz von 2022 zu 2023 bei 90 000 – und nicht bei mehr als dem Dreifachen.

Lauterbach nannte zudem als erwartbaren Zuwachs 50 000 Pflegebedürftige pro Jahr. Das ist laut Pflegeexperten eine überholte Zahl, eine absolute Untergrenze. Diese hat mit den Durchschnittszahlen bei dem Zuwachs seit 2017 nichts mehr zu tun. In diesem Jahr wurde ein andere Pflegesystematik eingeführt. Statt bis dahin drei Pflegegstufen gibt es seitdem fünf Pflegegrade. Pflegegrad 1 und 2 berechtigen aber nur zu deutlich weniger Leistungen als die drei höheren Grade.

Bei der neuen Systematik ist bis jetzt unklar, was der Zuwachs für die Kosten bedeutet. Laut GKV-Zahlen gibt es die höchsten Zuwächse bei den Pflegegraden 1 und 2. Seit 2017 haben sich die Zahlen bei Pflegegrad 1 mehr als vervierfacht, bei Pflegegrad 2 wuchsen sie um den Faktor 1,4. Bei Pflegegrad 5, der in der Regel mit aufwendiger stationärer Pflege verbunden ist, blieben die Zahlen in etwa konstant.

Zu den Pflegeexperten, die Lauterbachs Einschätzung kritisch bewerten, gehört auch der Bremer Forscher Heinz Rothgang. Aus dessen Sicht weicht die Entwicklung bei der Zahl der Pflegebedürftigen durchaus nicht von den erwartbaren demografischen Effekten ab. Laut dem Gesundheitsökonomen wäre ein jährlicher Anstieg von 250 000 Pflegebedürftigen realistisch.

Der höhere Wert könnte mit der Corona-Pandemie zu tun haben. Ein Mechanismus dafür sei aber noch nicht bewiesen, einen Zusammenhang mit Long Covid und psychologischen Spätfolgen der Pandemie möglich. Den von Lauterbach genannten Sandwich-Effekt mehrerer gleichzeitig pflegender Generationen hält Rothgang nicht für plausibel, weil es pflegebedürftige Babyboomer erst in sehr geringer Zahl gebe.

Neben dem relativ willkürlichen Umgang mit Zahlen fiel bei den Äußerungen Lauterbachs ein Vorschlag im Zusammenhang mit der Pflegefinanzierung auf. So sollte die teils notwendige Sozialhilfe für Pflegebedürftige künftig von den Pflegekassen ausgezahlt werden. Damit wollte der Politiker Menschen gerecht werden, die es als entwürdigend empfinden, am Ende eines arbeitsamen Lebens auf das Sozialamt angewiesen zu sein. Das bei den Kommunen eingesparte Steuergeld müsste dann an die Pflegeversicherung fließen. Ob dieser Trick es in die Gesetzgebung schafft, muss sich zeigen. Da die grundsätzliche Reform der Pflegefinanzierung seit Jahren von Bundesregierungen in die Zukunft verschoben wird, überrascht das Manöver kaum.

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