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Film »Hinter guten Türen«: Liebe, die wehtut

Die Filmemacherin Julia Beerhold spürt der Gewalt in ihrer Familie nach. In der Doku »Hinter guten Türen« geht es um Schuld und toxische Verbundenheit

Es muss wenigstens seriös aussehen: Filmemacherin Julia Beerhold winkt ihrem Vater im goldenen Mercedes zu (Foto aus dem Familienalbum).
Es muss wenigstens seriös aussehen: Filmemacherin Julia Beerhold winkt ihrem Vater im goldenen Mercedes zu (Foto aus dem Familienalbum).

In diesem Text geht es um die explizite Schilderung von Gewalt gegen Kinder. Wer ähnliche Erlebnisse gemacht hat, für den könnte das Lesen retraumatisierend wirken.

Jede Familie hat ein Geheimnis. Nur ist es bei den meisten wahrscheinlich eher etwas Harmloses. Der Vater trug heimlich Frauenkleider, die Mutter hatte ein Verhältnis, die Oma hat jahrzehntelang Geld versteckt. Aber es gibt sie eben auch, die Geheimnisse, die ein ganzes Leben prägen, die Seelen kaputtmachen, die Schaden anrichten, der nicht oder nur sehr schwer zu reparieren ist. Von dieser Art Geheimnis handelt Julia Beerholds sehr persönlicher Dokumentarfilm »Hinter guten Türen«.

Alles fängt ganz harmlos an. Wir sehen Kinderfilmaufnahmen auf Super 8. Die kleine Julia albert mit ihrem Bruder am Kaffeetisch herum, steht bei der Einschulung mit großer Zuckertüte vor der Schule, wird vom Vater auf die Schultern gehoben, von der Mutter gibt es einen Bussi auf die Wange. Aber die Musik, die Beerhold unter diese Szenen legt, lässt schon erahnen, dass es einen Bruch mit der vermeintlichen Idylle gibt. Das Schlagzeug ist hart, die Gitarre genauso erbarmungslos. Die Lyrics mehr geschrien als gesungen »Julia, your name is like summer. Go go go, set this world on fire« (Julia, dein Name klingt wie Sommer. Los, los, los, setz die Welt in Flammen) verheißen Unruhe im Paradies.

Und so ist es dann auch. In einer der nächsten Szenen konfrontiert Julia Beerhold ihre Mutter und erzählt eine Szene aus ihrer Kindheit nach: Als kleines Mädchen sitzt sie an einem Ostertag am Tisch, ein Verwandter ist zu Besuch. Julia bekommt, weil sie nicht gehorsam war, mehrere harte Ohrfeigen verpasst. Und weil das an Demütigung noch nicht reicht, macht der Vater von seiner weinenden Tochter auch noch Fotos, die Mutter und der Onkel lachen sie aus. Die Fotos klebt der Vater später sogar ins Familienalbum. Schon an diesem Punkt, da läuft der Film erst 20 Minuten, möchte man eigentlich das Kino verlassen, so schwer ist das auszuhalten, was in dieser Familie an Erniedrigung und Beschämung zum Alltag gehörte. Aber diesen Sieg will man den Eltern nicht gönnen und schaut dann doch Julia Beerhold 79 Minuten beim Aufarbeiten ihres Lebenstraumas zu.

Die Beerholds sind scheinbar eine gut situierte Normal-Familie. Der Vater Ingenieur, die Mutter Apothekerin. Die beiden bekommen erst nach 14 Jahren Ehe ihr erstes Kind, Julias Bruder Jens. Sie ziehen in einen selbst entworfenen Bungalow mit großem Garten. Das zweite Kind, Julia, wird sechs Jahre später geboren. Beide sind Wunschkinder, mit dem Makel, dass sie erst so spät kamen. Die Eltern arbeiten viel. Zu Hause kann man loslassen, es wird gefeiert und getrunken, die Kamera immer dabei. Julia und ihr Bruder bekommen an Weihnachten und zum Geburtstag massig Geschenke, sogar ein Pony ist dabei. Moderner Ablasshandel.

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Beerhold zeichnet mit einem Mix aus wackeliger Handkamera, eigenen Familienaufnahmen und langen Einstellungen des Hauses und während der Gespräche mit ihrer Mutter ein sehr detailliertes Bild ihrer Familie. Oft sieht man sie selbst vor der Kamera, eine bewusste Entscheidung, um aus der Opferrolle herauszukommen.

Der Vater, ein jovialer Typ, der schwer zu fassen ist. Meistens sieht man ihn, der bereits vor 20 Jahren verstorben ist, mit Zigarre. Selbst beim Schlittenfahren mit den Kindern musste der Wirtschaftswunderstängel brennen. Gewalttätig ist er, schlägt seine Kinder im Gegensatz zur Mutter aber meist im Affekt, sperrt sie im Keller ein, wenn sie nicht artig sind. Er kann aber auch sehr liebevoll sein, wie Beerhold beschreibt. Brachte die Kinder überall hin und holte sie auch wieder ab. Als Julia 12 wird, kündigt er seinen Job und ist ab da an nur noch Hausmann. Ein Patriarch in Kittelschürze. Die Mutter wiederum macht ihr Angst, sie ist eigentlich permanent abwesend, und wenn sie präsent ist, dann so, dass sie härter zuschlägt als der Vater – und mit Ankündigung. Die Kinder sollen ins Bad gehen und dort warten, um mit der Gerte verprügelt zu werden.

In »Hinter guten Türen« wirft Julia Beerhold viele Fragen auf: Was ist privat? Was öffentlich? Ist Erziehung Familiensache? Sollte man Vergangenes ruhen lassen? Wer hat Schuld?

Beerhold ist mutig, sie führt die Gespräche mit ihren Eltern, die wir uns nie getraut haben zu führen: »Warum hast du das getan«? »Wie kann man jemanden schlagen, den man liebt?« Die Antworten der Mutter, die immerhin bereit war, mit ihrer Tochter darüber zu sprechen und sich dabei filmen zu lassen, sind typische Abwehrreaktionen: Die Zeit war halt damals so. Es war normal, seine Kinder zu verprügeln, wenn sie nicht gehorchten. Gefühle wurden radikal unterdrückt, weit weggesperrt an einen Ort, an den man niemals herankommen durfte. An einer Stelle spricht die Mutter auch davon, das die Nazi-Zeit sie zu diesem Menschen gemacht habe, und man merkt in ihrem Tonfall, dass das nur die halbe Wahrheit sein kann und irgendwie auch gut als Ausrede taugt. Man möchte das gerne glauben: das Böse erzieht Böses. Aber Julia Beerhold wird 1965 geboren, 20 Jahre nach Ende des Krieges. Und sie fragt daraufhin auch die entscheidende Frage: Aber es muss sich doch falsch angefühlt haben?

»Hinter guten Türen« ist ein wichtiger Film, weil er eben keine Privatsache ist, sondern zeigt, wie Macht und Ohnmacht funktionieren und das in dem eigentlich am besten geschützten Raum, den es gibt: die Familie. Pro Jahr werden auch heute noch rund 50 000 Fälle von familiärer Gewalt gegen Kinder aktenkundig, die Dunkelziffer liegt sicherlich bedeutend höher. Der Film beweist, dass Gewalt keine Klassen kennt und dass die Kraft der Verdrängung unglaublich stark werden kann, wenn ein Mensch unfähig ist, Bedürfnisse und Gefühle zu artikulieren. Denn Julias Bruder Jens geht komplett anders mit den Erfahrungen seiner Kindheit um. Das alles sei nie so schlimm gewesen, wie sie es in ihrem Film schildere, an manche krassen Übergriffigkeiten will er gar keine Erinnerung mehr haben. Nach Ende der Dreharbeiten bricht er den Kontakt zu ihr ab. Nicht, ohne noch mal nachzutreten: Julia, seine Schwester, sei der Mensch, der ihm im Leben den meisten Schaden zugefügt habe.

In einer Szene fragt Julia Beerhold ihre Mutter, warum sie ihre Kinder so behandelt hat, sie wollte doch unbedingt welche haben und die Mutter antwortet kaltherzig: »Als ihr dann da wart, war dann aber auch gut.« Und hier tut sich noch ein ganz neues Panorama auf, das von Mutterschaft und Reue erzählen könnte, aber nie Thema des Films ist. Subtil geht es auch um den gesellschaftlichen Druck, der Haus und Kind als Blaupause für ein gelungenes Leben vorgibt und vielleicht geht es auch um postnatale Depression, etwas, dass es zu der Zeit, in der Helga Beerhold Mutter wurde, keine Begrifflichkeit hatte, aber als ernstzunehmende Erkrankung wohl trotzdem existent gewesen sein muss. Der Film erzählt aber auch davon, was für Menschen eine solche Erziehung hervorbringt: Menschen, die Liebe von Bedingungen abhängig machen, die Zuneigung mit Angst erpressen, die Gefühle ausschließlich mit Gewalt assoziieren und Anerkennung nur von außen kommen kann.

Aber das große Ganze interessiert Julia Beerhold zu Recht nicht, denn ihr Film ist eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Julia Beerhold wird schon in jungen Jahren alkohol- und drogenabhängig, ihre Beziehungen, egal ob Freundschaften oder Partnerschaften, sind immer von Gewalt, Machtspielen und Erniedrigungen geprägt. Sie flieht so früh wie möglich von zu Hause, lebt ein Jahr im Auto. Hauptsache raus. Drei Suizidversuche hat sie hinter sich.

Und doch sitzt Julia Beerhold mit ihrer Mutter im Altenheim am Kaffeetisch, zwei Mal in der Woche. Die anderen Bewohner*innen seien schon neidisch. Und das auf eine Frau, die ihrer Tochter so viel Gewalt angetan hat. Warum tut Julia Beerhold das, warum zeigt sie die Zuneigung, die sie nie erfahren hat? Eine Antwort darauf findet sie im Film nicht. Das Entscheidende aber fasst sie wohl in diesem Satz am Ende zusammen: »Um loslassen zu können, musste ich hinschauen.«

»Hinter guten Türen«: Deutschland 2024. Regie und Drehbuch: Julia Beerhold. 79 Minuten. Start: 30 Mai.

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