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»Normalerweise sitzen die anderen am Hebel, jetzt waren wir es«
Julia Maciejewicz hat bei der Nordhäuser Großbäckerei Aryzta einen erfolgreichen Streik mit organisiert. Womöglich war es nicht der letzte
»Wenn du nachts ins Werk kommst und allen verkündest, sie sollen die Maschinen abstellen – das ist schon ein geiles Gefühl«, sagt Julia Maciejewicz und lächelt. Die 39-Jährige spricht direkt, auf ihrem Arm ist ein Tattoo, ihre Nachtschicht liegt erst wenige Stunden zurück. Die alleinerziehende Mutter zweier erwachsener Kinder sitzt an einem Plastiktisch in einem Eiscafé in der Nähe des Bahnhofs der thüringischen Stadt Nordhausen. Sie raucht, grüßt immer wieder Kolleg*innen, die vorbeilaufen. Zu ihrem Arbeitsplatz ist es nicht weit. Vom Bahnsteig aus ist der schmucklose Kasten mit der Aufschrift »Klemme« und dem aufgemalten Croissant gut zu sehen. Das Werk gehört zum Schweizer Lebensmittelriesen Aryzta, einem der führenden Hersteller von Tiefkühlbackwaren in Europa. »Die Leute rümpfen manchmal die Nase, wenn sie hören, dass wir dort arbeiten«, sagt sie.
Maciejewicz ist Teigmacherin und Mitglied der Tarifkommission. Vor einigen Jahren hat die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) bei Aryzta einen eindrucksvollen Arbeitskampf begonnen. Im vergangenen Winter hat Maciejewicz zum ersten Mal einen Streik miterlebt und mitorganisiert – im kommenden Winter könnte es nun weitergehen. Während die Medien im Vorfeld der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen viel über die Lage in Ostdeutschland berichten, fällt ein Thema unter den Tisch: die oft harten Arbeitsbedingungen und die mühsamen Versuche der Beschäftigten, daran etwas zu ändern.
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Rund 165 Beschäftigte produzieren bei Aryzta in Nordhausen in drei bis vier Schichten Berliner, Brötchen, Baguettes und andere Backwaren für große Handelsketten und die Gastronomie. Julia Maciejewicz ist für die Berliner-Linie verantwortlich. Rund 11 000 Berliner, zu denen man in Berlin Pfannkuchen sagt, werden bei Aryzta pro Stunde hergestellt. Zwei große Kneter bereiten den Teig in Rührschüsseln vor, dann durchlaufen die Klumpen auf Fließbändern verschiedene Stationen – nach zweieinhalb Stunden sind die Gebäckstücke mit Konfitüre befüllt, mit Puderzucker bestreut, tiefgefroren und bereit für den Abtransport. Maciejewicz überwacht die Rezepturen, achtet darauf, dass die Teigrohlinge korrekt über das Band laufen, kontrolliert die Gewichte. »Ich mache das, was deine Oma früher in der Küche gemacht hat«, sagt sie.
Wobei die Arbeit bei Klemme anstrengender ist: Rund sieben Kilometer legt man in der Anlage pro Schicht zurück, die Backmittelsäcke wiegen 25 Kilo. »Wenn du nicht richtig geschlafen hast, ist jeder Sack, den du schleppen musst, einer zu viel.« Tennisarme und kaputte Knie sind das eine, die Auswirkungen des Schichtsystems auf Schlafrhythmus, Freundschaften und Familie das andere. Die unterste Lohngruppe liegt derzeit bei 13,01 Euro. »Die Arbeit ist körperlich und finanziell fett – ich hatte, wie sicher jeder, zwei, drei Tiefpunkte, wo ich zu Hause Rotz und Wasser geheult habe, weil ich nicht wusste, wie es weitergeht.« Nach einer anstrengenden Nachtschicht fährt Maciejewicz manchmal nach Warnemünde an die Ostsee, um sich etwas Gutes zu tun.
Seit der Gründung des Klemme-Werkes im Jahr 2005 galt für die Beschäftigten in Nordhausen derselbe Manteltarifvertrag. Lange Zeit ist nicht viel passiert. Vor drei Jahren gab es dann Entgelttarifverhandlungen mit dem anderen ostdeutschen Betriebsteil in Eisleben, Sachsen-Anhalt, wo rund 1200 Beschäftigte arbeiten. Mit dem Ergebnis war man in Nordhausen wie in Eisleben nicht zufrieden. Auch die Ungleichbehandlung mit dem Aryzta-Werk im bayerischen Gerolzhofen stieß auf Unverständnis. »Im ostdeutschen Betrieb wird für weniger Geld gearbeitet – das zeigt deutlich die geringe Wertschätzung«, sagt Gewerkschaftssekretär Swen Niekler von der NGG. Zu dem Ost-West-Unterschied komme noch die große Kluft zwischen dem Management und den einfachen Arbeiter*innen, so Julia Maciejewicz. »Die vergessen, dass sie ihre Jahresprämie nur durch uns bekommen.«
All das führte dazu, dass sich die Belegschaften in Nordhausen und Eisleben nach vielen Jahren erstmals zu organisieren begannen. »Die NGG war in Nordhausen schon lange im Werk präsent, aber niemand ist vorangegangen«, blickt Maciejewicz zurück. Das »Genöle« unter den Kolleg*innen hatte sie irgendwann satt. »Ich bin weniger aus Überzeugung in die Tarifkommission gegangen, sondern damit etwas passiert.« Die Zeit danach sei spannend, aber auch stressig gewesen. »Du machst früh die Augen auf und hast erst mal 87 neue Whatsapp-Nachrichten.« Sie habe viele Gespräche geführt, vor allem mit skeptischen Kolleg*innen – das mache manchmal auch müde. »Am Anfang glaubt keiner an sich und keiner an uns.« Doch Maciejewicz warb und warnte weiter, auch mit ihrer eigenen Geschichte. Ihre damals noch kleinen Kinder hatte sie bei Arbeitsbeginn vor zehn Jahren verschwiegen, um die Chance auf einen unbefristeten Arbeitsvertrag nicht zu gefährden. Auch in den folgenden Jahren sei es nie einfach gewesen. »Wenn es keinen finanziellen Puffer gibt, darf auch die Waschmaschine nicht kaputtgehen.«
Am 7. November und 4. Dezember 2023 war es dann so weit: Die Kolleg*innen in Nordhausen und Eisleben streikten gemeinsam an zwei Tagen für einen neuen Manteltarifvertrag. In Nordhausen gibt es in der Frühschicht etwa 60 Arbeiter*innen, nur eine Handvoll hatte sich nicht beteiligt. Als am zweiten Streiktag die Maschinen auf Maciejewicz Worte hin heruntergefahren wurden, war das ein »magischer Moment«, erzählt sie stolz. »Normalerweise sitzen die anderen am längeren Hebel, aber jetzt waren wir es.« In einem Zelt der NGG neben dem Werk wurde bei heißen Getränken das weitere Vorgehen besprochen. Um die Kälte zu vertreiben, machten etwa 30 Kolleg*innen mit ihren gelben Westen einen Protestmarsch durch das Stadtzentrum. Am Ende konnten die Streikenden höhere Zuschläge für Mehr-, Nacht-, Samstags- und Feiertagsarbeit, die Erhöhung der Jahressonderzahlung sowie mehr Freizeit und Entlastung bei Schichtarbeit durchsetzen. Eine Zwischenetappe war geschafft. »Die NGG macht einen tollen Job, sie steht hinter uns«, sagt Maciejewicz.
Zugleich wird deutlich, dass dieser Arbeitskampf ein Kraftakt war. Das lässt erahnen, wie schwer es für die Beschäftigten in anderen Betrieben der Region ist, Verbesserungen zu erreichen – vor allem dort, wo es keine Gewerkschaftsgruppen gibt. Maciejewicz schaut sich in der Eisdiele um. »Wenn man die Leute hier jetzt mal fragen würde, würden viele berichten, dass sie hart arbeiten, aber auf dem Konto nicht viel ankommt«, sagt sie. Maciejewicz erzählt von einem Gutscheinheft für Kinder und Jugendliche, das es während der Corona-Pandemie gab. Mit dem konnte man Freizeiteinrichtungen besuchen. So etwas brauche man immer. Auch einen höheren Mindestlohn. Ebenso berichtet sie von der Sorge, dass eine sinkende Nachfrage bei Aryzta zur Schließung des Werks führen könnte. Sie beklagt, dass der Staat nichts unternehme, um die Wirtschaft anzukurbeln. Die Teigmacherin wähle weder AfD noch Grüne, sagt sie – aber so wie es jetzt sei, könne es nicht weitergehen. »Es muss etwas passieren«, meint auch sie.
Und es ist etwas passiert. Bei den Landtagswahlen am 1. September wurde die AfD stärkste Partei in Thüringen, auch in Nordhausen. Obwohl die extrem rechte Partei arbeitnehmerfeindliche Positionen vertritt, wurde sie in Thüringen von der Hälfte jener Menschen gewählt, die ihre finanzielle Lage als schlecht einschätzen. 57 Prozent der Thüringer*innen machen sich Sorgen, ihren Lebensstandard nicht halten zu können, 66 Prozent sehen die wirtschaftliche Lage im Land als schlecht an – von dieser Angst konnte die AfD profitieren.
Die Erfahrungen im Betrieb wirken sich ebenfalls auf die politischen Einstellungen aus. Die Studie »Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland« der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung vom Dezember 2023 zeigt einen Zusammenhang zwischen extrem rechten Einstellungen und Ohnmachtsgefühlen am Arbeitsplatz. Auch eine Erwerbspersonenbefragung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung vom November 2023 zeigt, dass Menschen mit Abwertungserfahrungen am Arbeitsplatz häufiger die AfD wählen und dass dieser Zusammenhang im Osten stärker ausgeprägt ist. Die AfD zu wählen ist demnach auch eine Reaktion auf das Gefühl, nicht mitbestimmen zu können. Arbeitskämpfe könnten in so einer Situation die Ohnmacht überwinden und neue Erfahrungen ermöglichen.
Klar ist, dass die Gewerkschaften eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielen. »Wenn politische Bildung vernachlässigt wird und staatliche Aufgaben, die in der DDR gesetzt waren, heute flexibel gehandhabt werden, suchen die Menschen nach Antworten«, sagt Niekler. In Einzelgesprächen versuche die NGG zu erklären, warum die AfD keine Lösung ist. Wenn es rechte Sprüche unter den Aktiven gebe, suche man ebenfalls das Gespräch. Als Gründe für die Unzufriedenheit nennt der Gewerkschafter neben Kränkungserfahrungen in den 1990er-Jahren auch die anhaltende Ost-West-Spaltung. »Es gibt so gut wie keine Ostdeutschen in den Spitzen der Gesellschaft, und nahezu alle Konzernsitze sind in Westdeutschland.« Auch das schüre Unzufriedenheit, die aber von keiner der etablierten Parteien aufgenommen werde. Davon profitierten die »Neuankömmlinge auf der politischen Bühne«.
Während das politische Beben der Landtagswahlen noch durch Deutschland geht, beginnen Ende Oktober für Nordhausen die nächsten Entgelttarifverhandlungen. Aktionen und Forderungen werden vorher von der Tarifkommission beschlossen. Sollten die Verhandlungen bis Januar 2025 nichts bringen, seien Streiks denk- und machbar, erklärt Niekler. Die NGG sieht in der Auseinandersetzung auch eine Wirkung für die Region. »Aryzta muss hier zum Leuchtturmbetrieb werden.« Die Teigmacherin Julia Maciejewicz hofft, dass sich die Situation verbessert. »Es wird immer Alleinerziehende geben – die sollen es doch mal leichter haben als ich.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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