Italien: Enthemmter Kapitalismus

Die »Freiheit des Unternehmertums« gilt als heilig. Aber sie nützt weder bei Produktivität noch bei Löhnen

  • Emiliano Brancaccio
  • Lesedauer: 3 Min.
Gewerkschaftsdemonstration am 1. Mai in Rom
Gewerkschaftsdemonstration am 1. Mai in Rom

Heute feiern wir den Tag der Arbeit, doch an den anderen Tagen des Jahres feiern allein die sogenannten Arbeitgeber. Dabei ist die Form der gegenwärtigen Produktionsweise klarer denn je: ein restaurierter Kommando-Kapitalismus. Ein Kapitalismus, bei dem die Unternehmer befehlen und die Arbeiter schuften, ohne aufzumucken. Und das gilt für alle Beschäftigten, vom Arbeiter über den Verkäufer bis zum angestellten Ingenieur. Diese Befehlslogik durchdringt auch sehr große Teile des öffentlichen Sektors. Fragen Sie einfach einen prekär Beschäftigten an einer Schule, zu welcher Unterwürfigkeit er gegenüber der Schulleitung gezwungen ist. Kurz gesagt: Vom Topmanager bis zum Vorarbeiter auf unterster Ebene ist die Arbeit heute fast vollständig frei von Regulierungen, seien es nun Gesetze oder gewerkschaftliche Rechte.

Die Internationale

Die linke Medienlandschaft in Europa ist nicht groß, aber es gibt sie: ob nun die französische »L’Humanité« oder die schweizerische »Wochenzeitung« (WOZ), ob »Il Manifesto« aus Italien, die luxemburgische »Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek«, die finnische »Kansan Uutiset« oder »Naše Pravda« aus Prag. Sie alle beleuchten internationale und nationale Entwicklungen aus einer progressiven Sicht. Mit einer Reihe dieser Medien arbeitet »nd« bereits seit Längerem zusammen – inhaltlich zum Beispiel bei unserem internationalen Jahresrückblick oder der Übernahme von Reportagen und Interviews, technisch bei der Entwicklung unserer Digital-App.
Ab kommenden Samstag wollen wir einen weiteren Schritt in dieser Kooperation gehen. Künftig werden wir in dieser Digitalausgabe einen Kommentar aus unseren Partnermedien nachdrucken, der aktuelle Themen unter die Lupe nimmt. Das können sowohl Ereignisse aus den jeweiligen Ländern sein als auch Fragen der »großen Weltpolitik«. Damit wird »nd« noch internationaler – und das wollen wir auch mit dem Titel der Kolumne unterstreichen: »Die Internationale«.

Die Wiederherstellung der kapitalistischen Herrschaft über die Arbeit ist ein weltweites Phänomen. Es gibt jedoch einige Beispiele, die symbolträchtiger sind als andere. Unter ihnen sticht Italien heraus.

Den US-amerikanischen Lehrbüchern zufolge, nach denen Ökonomen an unseren Universitäten lehren, sollte eine von allen Zwängen befreite kapitalistische Herrschaft Quelle wirtschaftlichen Wohlstands für die gesamte Nation sein. Die vorherrschende Wirtschaftstheorie besagt, dass Produktivität und Löhne dort steigen, wo der Kapitalist dominiert. Die Fakten zeigen jedoch, dass diese Theorie in der Praxis nicht aufgeht: Wenn die nationale Wirtschaftspolitik Arbeitnehmerrechte einschränkte, verschlechterten sich Produktivitätstrends, Löhne und allgemeine Arbeitsbedingungen drastisch. Offiziellen Statistiken zufolge ist die Produktivität in Italien seit Beginn des Jahrhunderts lediglich um 2,7 Prozentpunkte gestiegen, während die Kaufkraft der Löhne um 5,4 Prozentpunkte gesunken ist. Selbst beim extremsten Aspekt, der Zahl von Todesfällen am Arbeitsplatz, ist eine relative Verschlechterung zu beobachten: Während in den Jahren der Gewerkschaftskämpfe die Zahl der Arbeitsunfälle um die Hälfte sank, beobachten wir seit Beginn dieses Jahrhunderts einen beunruhigenden Trend zur »Stabilisierung der Todeszahlen«.

»Il Manifesto«

Die kommunistische Tageszeitung »Il Manifesto« ist bis heute ein wichtiger Bezugspunkt für die italienische Linke. Als eine der ersten Genossenschaft im Medienbereich organisiert, ist die Zeitung unabhängig von Parteien oder Verlegern. Die aktuelle verkaufte Auflage der Tageszeitung liegt heute bei etwa 15 000 Exemplaren.

Il manifesto entstand 1971 als politisches Projekt, begleitete die Arbeitskämpfe des »roten Jahrzehnts« beim Autokonzern Fiat sowie bei anderen Unternehmen und war getragen von der Welle der 68er-Bewegung, die in Italien besonders heftige gesellschaftliche Umbrüche auslöste.

Anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung vom Nazifaschismus rief die Zeitung auch in diesem Jahr wieder zu einer großen Demonstration am 25. April in Mailand auf. Rund 100 000 Menschen kamen zusammen und setzten ein Zeichen gegen die extreme Rechte in Italien und Europa.

Unterm Strich lässt sich damit sagen, dass die Unternehmen ihre Gewinne einzig und allein durch Lohnkürzungen steigern konnten, ohne sich nachdrücklich für die Steigerung von Produktionseffizienz und -sicherheit eingesetzt zu haben. In Italien ist dieses Phänomen besonders auffällig, doch im Grunde handelt es sich um eine Entwicklung, die sich auch international vollzieht. Eine vom Institute for New Economic Thinking veröffentlichte Studie zeigt, dass selbst in den Vereinigten Staaten die »Schwäche« der Arbeitnehmerseite einen Akkumulationsprozess befördert, der durch niedrige Produktivität gekennzeichnet ist. Das heißt: Mit zunehmender »Freiheit« des Kapitalisten sinkt die Effizienz seines Kapitals proportional.

Einst gehörten diese »materiellen Gesetze« des Systems zum Wissensschatz der gesamten Gemeinschaft. Meistens war es an den Kommunisten, sie den Liberalen, den Konservativen und sogar den Faschisten zu erklären. Mit dem Verschwinden der ersteren bleibt nur noch die Wahl zwischen den Ideologien der letzteren. Aber sie alle behandeln die Freiheit des Kapitals auf die eine oder andere Weise als »heilig und unantastbar«. Solange sie frei sind, Verfall zu säen, werden die Kapitalisten weiter feiern. Nehmen wir ihnen die Champagnerflaschen aus den Händen: ein würdiger Vorsatz zur Modernisierung der Maifeierlichkeiten!

Der Text ist am 1. Mai in unserem Partnermedium »Il Manifesto« erschienen. Der mit KI-Programmen übersetzte Beitrag wurde nachbearbeitet und gekürzt.

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