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Kreuzberger Kiezlegende überfallen

Der linke Ladeninhaber Hans Georg Lindenau wurde mit einer Schreckschusspistole geschlagen

Was wäre Kreuzberg ohne Hans Georg Lindenaus Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf?
Was wäre Kreuzberg ohne Hans Georg Lindenaus Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf?

Der Andrang ist am 2. Mai groß im sogenannten Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf in der Falckensteinstraße. Nun könnte man denken, das ist eine Folge des 1. Mai und der verschiedenen Demonstrationen und Veranstaltungen, die es auch in diesem Jahr in Berlin-Kreuzberg gegeben hat. Doch die vielen Leute, die den Laden am 2. Mai aufsuchen, wollen vor allem wissen, wie es dem Inhaber Hans Georg Lindenau geht, den alle nur HG nennen. Er wurde am frühen Abend des 1. Mai Opfer eines versuchten Raubüberfalls. Zwei Männer drängten erst einen Kunden aus dem Laden und verlangten dann von HG die Herausgabe von Bargeld. Dabei zielten sie mit einer Waffe auf ihn, die HG aber schnell als Schreckschusspistole erkannte. Er wehrte sich und drängte einen der Angreifer mit seinem Rollstuhl in eine Ecke.

»Darauf hob der meine Mütze hoch und schlug mehrmals mit der Pistole auf Kopf und Nacken«, beschreibt HG das Vorgehen des Täters. Nachdem ein weiterer Kunde aus dem hinteren Teil des Ladens zu Hilfe kam, flüchteten die Täter ohne Beute. Die Polizei ermittelt. HG ließ seine Kopfverletzungen im Krankenhaus behandeln. Nach mehreren Untersuchungen wurde er heute auf eigenen Wunsch entlassen. »Der Heilungsprozess verläuft gut«, sagt HG, der bereits wieder in seinem Laden arbeitet. Doch der Schock sitzt tief. »Ich habe zunächst tatsächlich gedacht, ich sterbe.«

»HG ist eine bedeutsame Berliner Persönlichkeit, der das von Alexander Kluge und Oskar Negt beschriebene Prinzip der Gegenöffentlichkeit bis heute praktiziert.«

Matthias Coers Filmemacher

HG betreibt seit über 40 Jahren seinen Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf. Die Wurzeln liegen noch in der Zeit, als in den 1980er Jahren in Kreuzberg Häuser besetzt wurden. HG war mittendrin und engagierte sich im »Kunst- und Kulturcentrum Kreuzberg« (Kuckuck), das 1984 geräumt wurde. HG setzte seine Arbeit dann im M99 fort. Dieser Name des Szeneladens steht für die Adresse Manteuffelstraße 99, wo HG über viele Jahre ansässig war. Der Laden befand sich mitten im Kiez und erfüllte auch die Funktion eines Stadtteilladens. Es gab eine Freebox und linke Gruppen nutzten ihn als Postadresse.

Polizei und Staatsschutz interessierten sich über viele Jahre für den Laden, weil dort auch linke Zeitungen aus der autonomen Szene wie die »Radikal« angeboten wurden. HG erlebte zahlreiche Razzien. Das hat nachgelassen, nachdem der Laden aus der Manteuffelstraße vertrieben wurde. Wie viele andere Kreuzberger Einrichtungen wurde er ein Opfer der Gentrifizierung, trotz einer jahrelangen Kampagne unter dem Motto »HG bleibt«. 2016 konnte eine Zwangsräumung in letzter Minute nur durch ein ärztliches Attest verhindert werden. Denn für HG, der seit Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen ist, bedeutet der Laden mehr als eine Einnahmequelle. Er ist auch sein Lebensmittelpunkt.

Daher arbeitet HG einen Tag nach dem Überfall schon wieder in der Falckensteinstraße nahe der Oberbaumbrücke. Dort hat sich ein Stück altes rebellisches Kreuzberg der 1980er Jahre erhalten. Neben linker Literatur gibt es Kleidung für die linke Szene, darunter T-Shirts, Kapuzenpullis, aber auch vegane Schuhe. Zudem können sich die Kund*innen mit politischen Plakaten und Flugblättern eindecken. Aktuell stehen dort Plakate in Solidarität mit Daniela Klette und Poster gegen die Gentrifizierung zum Abholen und Plakatieren bereit. Klette ist inhaftiert. Sie ist angeklagt, der RAF angehört und Banküberfälle verübt zu haben.

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Auch den Filmemacher und Aktivisten Matthias Coers wühlt es auf, dass HG Opfer eines Raubüberfalls wurde. Coers nennt HG »eine bedeutsame Berliner Persönlichkeit, der das von Alexander Kluge und Oskar Negt beschriebene Prinzip der Gegenöffentlichkeit bis heute praktiziert und dies tagtäglich über Jahrzehnte jungen Menschen zugänglich und erlebbar macht«. Gerade sein Laden sei ein besonderer Teil der Kreuzberger Geschichte und Gegenwart und ein Kommunikationsort unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. »Gerade solche soziokulturellen Orte bedürfen der Unterstützung durch die Nachbarschaft. Nach dem Überfall auf HG ist das eine noch dringlichere Mahnung.«

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