Todesmärsche: »Niemand hat den Kopf gedreht«

Initiativen informieren über Deportationen von KZ-Häftlingen durch den Harz im April 1945

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 5 Min.
Figurengruppe auf dem Krematoriumsvorplatz der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Von hier und aus anderen Lagern wurden im April 1945 rund 40 000 Häftlinge auf Märsche durch den Harz Richtung Nordwesten gezwungen, die für mehr als 10 000 von ihnen den Tod bedeuteten.
Figurengruppe auf dem Krematoriumsvorplatz der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Von hier und aus anderen Lagern wurden im April 1945 rund 40 000 Häftlinge auf Märsche durch den Harz Richtung Nordwesten gezwungen, die für mehr als 10 000 von ihnen den Tod bedeuteten.

Zum Treffen im Harzstädtchen Braunlage hat Friedhart Knolle eine Broschüre mitgebracht. Sie kommt frisch aus dem Druck und informiert über die sogenannten Todesmärsche von KZ-Häftlingen durch den Harz vor gut 80 Jahren. »Augenzeugen beschreiben darin sehr eindringlich Willkür, Qualen und Tod, denen die Häftlinge während der Märsche und Bahntransporte ausgesetzt waren«, sagt Knolle. Zugleich gehe es in den Erinnerungsberichten auch um Hass oder Hilfe von Anwohnern. Knolle, langjähriger Sprecher des Nationalparks Harz, ist Vorsitzender des Vereins »Spurensuche Harzregion«, der die Broschüre gemeinsam mit einer weiteren Initiative herausgegeben hat.

In den ersten Apriltagen des Jahres 1945 hatte die SS angesichts der vorrückenden Truppen der Alliierten allein im südlichen und westlichen Harzvorland aus dem KZ Mittelbau-Dora in Thüringen und seinen zahlreichen Außenlagern zwischen Osterode und Sangerhausen mehr als 40 000 KZ-Häftlinge nach Nordwesten getrieben. Vier Wochen später, bei Kriegsende, war gut ein Viertel von ihnen tot – verhungert, verdurstet, erstickt, erschlagen, erschossen, bei lebendigem Leibe verbrannt oder an Krankheiten wie Typhus gestorben.

Am 8. April 1945 trieb die SS rund 3500 Häftlinge aus dem KZ Mittelbau-Dora auf der sogenannten Großen Harzüberquerung durch das Gebirge. Dieser 34 Kilometer lange Gewaltmarsch führte von Osterode nach Oker. Vier Tage zuvor waren etwa 450 Gefangene des KZ Gandersheim zu einem Marsch über Bad Grund und Clausthal-Zellerfeld in Richtung Wernigerode aufgebrochen, wo die Überlebenden am 7. April ankamen.

Auch 800 Häftlinge der III. SS-Baubrigade wurden nach Wernigerode getrieben. Von den ursprünglich 1150 Männern galten zu diesem Zeitpunkt nur noch diese 800 als »gehfähig« – ein zynischer Begriff der SS für Menschen, die dem Tod noch nicht ganz nahe waren. Die insgesamt fünf SS-Baubrigaden waren mobile KZ-Kommandos, die ab Herbst 1942 im Wesentlichen nach alliierten Bombenangriffen bei Bau- und Aufräumarbeiten sowie zur Bergung von Leichen in zerstörten deutschen Städten eingesetzt wurden.

Die Stele vor der Kirche in Clausthal steht für verweigertes Wasser. Dort hatte eine Anwohnerin den durstigen Häftlingen einen Eimer Wasser an die Straße gestellt. Er wurde von den SS-Leuten umgestoßen.

Die SS zwang auch Robert Antelme zum berüchtigten Marsch aus Gandersheim. 1944 zunächst nach Buchenwald und von dort ins KZ Gandersheim deportiert, beschrieb er später die Ankunft am Abend des ersten Marschtages in einem Saal in Bad Grund: »Wir drängen uns dicht aneinander. Ein Wachposten und ein Kapo bewachen den Eingang. Zum Scheißen müssen wir hinaus und immer nur einer gleichzeitig (…) Die Kapos haben die Kameraden weggeschickt, um Säcke zu holen. Diese Säcke sind voller Hundekuchen. Die Kapos haben zuerst versucht, sie zu verteilen, aber wir sind über die Säcke hergefallen. Die reinste Schlägerei. Wir stecken uns die Taschen voll. Die SS-Leute kommen mit dem Gummiknüppel. Wir lassen die halbleeren Säcke im Stich. Ich beiße in einen Hundekuchen hinein, es sind gemahlene Knochen drin, sie schmecken bitter.«

Am nächsten Tag marschierten sie weiter. Auf dem Weg nach Clausthal erschoss die SS den Häftling Werner Dollinger, einen Zeugen Jehovas. »Der deutsche Bibelforscher ist auf der Straße stehengeblieben«, schrieb Antelme in seinen Erinnerungen. »Er steht mit hängenden Armen etwas abseits von der Kolonne. Er rührt sich nicht und schaut einfach nur auf die Berge und das Tal (…) Zwei Schüsse hinter uns, zwei Schüsse während wir dahin gingen. Niemand hat den Kopf umgedreht.«

Während die Deportationen und SS-Verbrechen der letzten Kriegstage im Ostharz zu DDR-Zeiten wenigstens teilweise aufgearbeitet und dokumentiert wurden – etwa durch die zwischen 1949 und 1971 gebaute und mehrfach erweiterte Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe in Gardelegen –, waren die auf der niedersächsischen Seite begangenen Verbrechen lange vergessen, beziehungsweise sie wurden verdrängt, erzählt Knolle. Häufig – »zu häufig«, sagt er – habe es Forderungen gegeben, »die alten Geschichten ruhen zu lassen«.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Den Anstoß für das »Wegzeichenprojekt Westharz« gab dann Ende der 90er Jahre der Wunsch ehemaliger Häftlinge aus Mittelbau-Dora, mit Gedenksteinen an die Todesmärsche zu erinnern. In den Jahren 2000 und 2001 errichteten engagierte Schüler und Bürger entlang der Marschrouten insgesamt 18 Stelen, die teilweise durch Spenden finanziert wurden. Auch beschriftete Tafeln erinnern dort an die Ereignisse.

Eine Stele steht bei Lerbach im Südharz. Dort hatten niederländische Inhaftierte während der »Großen Harzüberquerung« voller Hoffnung auf das sich nähernde Gebrumm alliierter Flieger reagiert. Zur Abschreckung führte ein SS-Mann einen Gefangenen an den Bach und ermordete ihn beim befohlenen Wassertrinken durch Genickschuss. Die Stele vor der Kirche in Clausthal steht für verweigertes Wasser. Dort hatte eine Anwohnerin den durstigen Häftlingen einen Eimer Wasser an die Straße gestellt. Er wurde von SS-Leuten umgestoßen.

Die 18. Stele wurde vor der evangelischen Trinitatis-Kirche in Braunlage aufgestellt. Zwei Todesmärsche führten hier vorbei. Die neben der Stele angebrachte Tafel hat die Form einer Fichte. »Vom 6. bis 8. April 1945 durchquerten mehrere große Kolonnen von KZ-Häftlingen Braunlage«, steht dort. Und weiter: »Diese Todesmärsche überlebten zahlreiche der geschwächten Menschen nicht. Ehre ihrem Andenken.«

- Anzeige -

Wir sind käuflich.

Aber nur für unsere Leser*innen. Damit nd.bleibt.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Werden Sie Teil unserer solidarischen Finanzierung und helfen Sie mit, unabhängigen Journalismus möglich zu machen.

- Anzeige -
- Anzeige -