Ärzte als Überzeugungstäter

Vor 90 Jahren erließen die Nazis rassistische Gesetze, an die im ehemaligen NS-Musterdorf Alt Rehse erinnert wurde

Im ehemaligen NS-Musterdorf Alt Rehse wurden die Häuser nach den Reichsgebieten benannt. Das »3. Jahr« meint das dritte Jahr der NS-Herrschaft ab 1933.
Im ehemaligen NS-Musterdorf Alt Rehse wurden die Häuser nach den Reichsgebieten benannt. Das »3. Jahr« meint das dritte Jahr der NS-Herrschaft ab 1933.

Der Gutspark Alt Rehse liegt am Tollensesee bei Neubrandenburg: alte Bäume, gepflegter Rasen, mitunter ein Blick auf den See. Einige größere Gebäude stehen dort am Hang, das Fachwerk ausgemauert mit Backstein, unter Reetdächern. Ein Hotel lädt heutzutage zur Ayurveda-Kur ein. Vor dem Tor des Gutsparks liegt ein Dorf, dessen Vergangenheit sich bei genauem Blick durchaus erschließt. Auf den Türbalken der Wohnhäuser heißt es etwa: »errichtet im 3. Jahre« – »des 1000-jährigen Reiches«, wäre die Zeitangabe zu präzisieren. Die 22 Häuser gehören zu dem Musterdorf, mit dem die Nazis auch ein architektonisches Aushängeschild schaffen wollten. Und im Gutspark befand sich zwischen 1935 und 1943 die »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft«. Vor 90 Jahren wurde diese Schule eingeweiht.

Etwa 10 000 Ärzte wurden hier »weltanschaulich geschult«, in Lehrgängen von ein bis vier Wochen. Die Mediziner, einheitlich in Trainingsanzüge gekleidet, hörten Vorträge, etwa zu den Themen »Rassenhygiene«, »Erbgesundheit« oder »Der nationalsozialistische Arzt«. Zu kürzeren Kursen wurden Apotheker und Hebammen eingeladen.

Vor 90 Jahren wurde nicht nur diese »Führerschule« eröffnet, sondern es wurden auch die Nürnberger Gesetze erlassen. Dazu gehörte das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«. Ziel war zunächst, jüdische Menschen auszuschließen, erst einmal über Verbote von Ehe und Geschlechtsverkehr mit Staatsangehörigen »deutschen und artverwandten Blutes«. Umgesetzt wurde die »Rassenhygiene« durch das ebenfalls 1935 erlassene »Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes«. In der Praxis folgten nach diesen Vorgaben Zwangssterilisationen und -abtreibungen, Krankenmorde bis hin zum Massenmord an den europäischen Juden in Vernichtungslagern.

Der Schulungsbetrieb in Alt Rehse wurde in den Kriegsjahren eingestellt. Zwischenzeitlich diente der Ort als Reservelazarett. Nach Kriegsende kam die Sowjetarmee, dann entstand ein Kinderheim, anschließend eine Lehrerbildungseinrichtung. Viele Jahre gab es hier einen NVA-Standort. Ab 1990 versuchten sich wechselnde Akteure darin, Park und Schulgebäude für eigene Interessen zu nutzen, bis hin zum jetzigen Hotelbetrieb.

Seit 2001 bemüht sich der gemeinnützige Verein Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse darum, im Dorf einen Lern- und Gedenkort zu verankern. Eine kleine ständige Ausstellung ist in einem gewerblichen Neubau der 90er Jahre zu finden. Dort ist zurzeit auch eine Wanderausstellung zur Rolle der Gesundheitsämter in der NS-Zeit zu sehen. In Zukunft werden Räume in einer der ehemaligen NVA-Baracken am Rande des Gutsparks zur Verfügung stehen. Die finanzielle Situation hat sich etwas verbessert, es gibt Landes- und Bundesmittel, auch die Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern unterstützt. Kleinere Beiträge kommen von Ärztekammern.

Jedoch sind sich die Aktiven, darunter der langjährige Projektleiter, der Historiker Rainer Stommer, einig mit dem wissenschaftlichen Beirat des Vereins und weiteren Verbündeten, dass die Möglichkeiten von Gedenkorten in der Region stärker genutzt werden sollten. Mit den Hintergründen der faschistischen Medizinverbrechen sollten sich vor allem Lernende in den Gesundheitsberufen auseinandersetzen. So nahm man die rassistischen Gesetze von 1935 als Anlass für eine Veranstaltung am vorletzten Maiwochenende, zu der ausdrücklich Vertreter von Hoch- und Fachschulen eingeladen waren.

Bestärkt wird dieser Ansatz durch den Bericht der Lancet Commission on Medicine, Nazism, and the Holocaust von Ende 2023. Die renommierte medizinische US-Fachzeitschrift »The Lancet« beruft regelmäßig Kommissionen zu Zukunftsproblemen der Medizin, in denen Experten möglichst von allen Kontinenten jeweils verfügbare Lösungen zusammenführen. Die Abschlussberichte werden in einer »Lancet«-Sonderausgabe veröffentlicht.

Zu den Mitbegründern dieser Kommission gehört der Medizinhistoriker Volker Roelcke von der Universität Gießen. In Alt Rehse erläuterte er die wesentlichen Forschungsergebnisse. Zur Fülle von Details gehört die Vorgeschichte, etwa der Antisemitismus vor 1933 und das Interesse der Ärzteschaft an der NS-Ideologie schon vor diesem Zeitpunkt. Aber auch nach 1945 gab es »viele Arten von Kontinuitäten«. Das Unrecht in der Medizin war in den zwölf Jahren bis 1945 extrem ausgeprägt, aber schon vorher in der modernen Medizin angelegt. Jedenfalls war der Enthusiasmus der Ärzte für den neuen NS-Staat groß: Gesundheits-, Sozial- und Bevölkerungspolitik sollten auf den Gesetzen der Biologie basieren. Entsprechend waren die Ärzte die Akademikergruppe mit dem größten Anteil von Parteimitgliedern, noch vor Juristen und Lehrern.

Auch die Teilnehmer an den Lehrgängen in Alt Rehse mussten der Partei angehören. Insgesamt waren zwischen 55 und 60 Prozent der Ärzte in NSDAP oder SS. »Aber eben nicht 98 Prozent«, erläutert Roelcke – es gab also durchaus Handlungsspielräume. Ein Beispiel sind die Meldungen von Ärzten über Menschen, die sterilisiert werden sollten. Laut einer aktuellen Forschungsarbeit meldeten bis zu zwei Drittel der niedergelassenen Ärzte im Raum Erlangen/Nürnberg keinen ihrer Patienten an Gesundheitsämter oder Erbgesundheitsgerichte. Das wurde durchaus bemerkt, zog aber keine Sanktionen nach sich.

Vielmehr konnten die Ärzte mit den Rahmenbedingungen des faschistischen Staates Vorstellungen umsetzen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts existierten. Die Ermordung von bis zu 300 000 Menschen als »Ballastexistenzen« war möglich, weil Ärzte mit medizinischer Begutachtung dazu beitrugen. Gerichte der Nachkriegszeit kamen laut Roelcke zu dem Schluss, dass hier eigentlich richtige Dinge aus dem Ruder gelaufen seien.

Ein andere Form von Verbrechen war von Ärzten initiierte Forschung, unter anderem in »völlig deregulierten Räumen« im besetzten Osten Europas. Mediziner traten an die SS heran, um Versuchspersonen zu erhalten. Die Forschung selbst sei nicht absurd gewesen, ebensowenig ihre Methoden, so Roelcke. Gegenüber den Versuchspersonen zeigte sie sich brutal, rücksichtslos und führte oft zu einem tödlichem Ausgang.

Zu den zentralen Ergebnissen der Kommission zählt auch die Erkenntnis, dass viele Nachkriegsnarrative zur Schuldentlastung beitrugen. Die Rede war etwa von nur wenigen Ausnahmen unter den Nazi-Ärzten, die an Verbrechen beteiligt gewesen waren und als einzelne Monster dargestellt wurden. Spuren all dieser Themen lassen sich in der Forschung zur »Führerschule« finden, aber auch an Orten wie der Heil- und Pflegeanstalt auf dem Schweriner Sachsenberg oder der Universitätsklinik Rostock-Gehlsdorf, gar nicht zu reden von den KZ-Gedenkstätten der Region. Die Orte bieten sich für Exkursionen von Studierenden an, aber erst an einzelnen Ausbildungsstätten sind solche Besuche fest verankert, darunter an der Hochschule Neubrandenburg.

Wir sind käuflich.

Aber nur für unsere Leser*innen. Damit nd.bleibt.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Werden Sie Teil unserer solidarischen Finanzierung und helfen Sie mit, unabhängigen Journalismus möglich zu machen.