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Über die Alltäglichkeiten hinwegträumen
Der ostdeutsche Philosoph Gerd Irrlitz wird 90 Jahre alt
Es gibt große Dinge zu vollbringen!» Mit dem Ruf begann einst der Sozialutopist Saint-Simon seine Tage – und auch Gerd Irrlitz lebt diesen hohen Anspruch. Wer, wenn nicht ein Philosoph, soll große Gedanken denken, die über die Flut von Meinungen und den Abgrund herrschender Interessen hinausweisen?
Irrlitz ist einer der wenigen noch lebenden Leipziger Schüler von Ernst Bloch, dem Jahrhundertdenker. Er ging seinen Weg als unorthodoxer marxistischer Philosoph, dem Beispiel seines Lehrers folgend. Bloch war aus der jüdischen Tradition zum Marxismus gekommen, brachte aus der Emigration in den USA ein «fertiges Werk» (Irrlitz) mit nach Leipzig, wo er 1948 eine Professur erhielt. An Bloch, damals schon ein älterer Mann, bewundert Irrlitz die «jugendfrische Erwartung», die von ihm ausging.
Wodurch ein Lehrer überhaupt auf seine Schüler wirke, hat Irrlitz im Gespräch mit dem Filmemacher Thomas Grimm (einst Student von Irrlitz) so formuliert: dadurch, dass der Schüler das, was er aufnimmt, in etwas Eigenes verwandelt. Es waren die Welteröffnungen in Irrlitz’ Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, die bis heute in mir fortwirken.
In seinem Vortrag «Die Idee des Sozialismus» von 2021 blickt er darauf zurück: «Auch vom engagierten Intellektuellen ist nach dem verschwundenen Morgenrot der vorausgedachten neuen Welt nicht mehr leicht zu sprechen. Doch sie zeichneten die intellektuelle Linie, die von diesem Zeitalter bleibt. Ihr Mut und ihre Niederlagen sind die Merksteine, an denen die Zeitgenossen über ihre Alltäglichkeiten hinwegträumen.»
Natürlich wird das Zusammentreffen einer Idee und ihrer Geschichte unweigerlich widersprüchlich. Diesen Widerspruch zu denken, ist Sache der Philosophie. Die erste Vorlesung von Irrlitz hörte ich 1985. Sie ist mir gegenwärtig geblieben, denn sie stand unter dem Thema «Was ist Philosophiegeschichte?» und war eine glatte Überforderung. Aber genau diese suchten wir, denn von vorformulierten Antworten zum Nachbeten hatten wir genug.
Irrlitz also führte uns zur Einheit von Ideen-, System- und Problemgeschichte seit Thales und dem Beginn der Philosophie mit der Frage nach dem Ursprung aller Dinge. Das wichtigste Element in diesem Zugleich verschiedenster Perspektiven bleibt natürlich die Problemgeschichte. Sie erst stellt den Zusammenhang zwischen allen anderen Bereichen her, bringt sie zudem in den zeitlichen Fluss.
Dieser Philosoph vertrieb mit wenigen Sätzen jeden Anflug von Provinzialität und ideologischer Simplifizierung. Schließlich hatte Stalin in der DDR bis 1989 nicht «den Raum verlassen», wie Stefan Heym einmal formulierte. Bloch ging 1961, nach seiner Zwangsemeritierung jeder Wirkmöglichkeit beraubt, nach Tübingen.
In der DDR jedoch gab es einen destruktiven Streit in der Kulturpolitik, ob Bloch als Marxist gelten und man Texte von Nietzsche drucken durfte. Auch in diesen Auseinandersetzungen erwies sich Irrlitz als unerschrockener Aufklärer, der mahnte, der Marxismus dürfe sich nicht wie eine Gouvernante aufführen, die nur darauf sehe, dass sich das Kindchen Marxismus kein Schleifchen schmutzig mache.
Gerd Irrlitz, vor 90 Jahren in Leipzig geboren, wuchs in einem widerständigen bürgerlichen Umfeld auf. Sein Vater gehörte 1931 zu den Mitbegründern der SAP, 1935 von der Gestapo zerschlagen (Irrlitz’ Vater wurde zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt). Vor einigen Jahren hat Irrlitz ein lesenswertes Buch über seinen Vater und die antifaschistische SAP geschrieben («Widerstand nicht Resignation»), einer unorthodoxen Partei, die in der DDR nie ein Thema sein durfte.
Ab 1953 studierte er in Leipzig, wurde nach dem Ungarnaufstand wegen nicht parteikonformer Ansichten in die Buna-Werke als Transportarbeiter geschickt. Die Arbeiter sollten ihn erziehen. In gewisser Weise taten sie das tatsächlich, denn sie hatten Respekt vor jungen Leuten, die die Konsequenzen ihres Denkens trugen.
Den ersten Text von Irrlitz las ich mit 14 Jahren ausgerechnet in einem hochoffiziellen Buch: «Der Sozialismus – Deine Welt», das staatliche Geschenk, das jeder zur Jugendweihe erhielt und das Vorgängerbuch «Weltall Erde Mensch» ablöste. Irrlitz schrieb darin über Spartacus und den Sklavenaufstand. 70 000 Sklaven, die um ihre Freiheit und Menschenwürde kämpften – vergeblich. Nicht zuletzt von Bloch hat Irrlitz die Hochachtung vor dem Freiheits- und Gerechtigkeitswillen der Armen. In ihnen gärt ein radikaler Willen zur Humanität, mit dem sozialer Veränderungswille einhergeht.
Bei Irrlitz lernte ich grundlegende philosophische Problemlagen in der Geschichte zu erkennen. Vor allem das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. In seinem Buch «Der Anspruch der Vernunft» (zusammen mit Manfred Buhr) hat er 1968 darüber geschrieben. Für Hegel war das Ganze das Wahre – Kritiker haben ihm daraufhin eine Vergottung des preußischen Staates vorgeworfen, was natürlich zu kurz greift.
Doch die Konfliktlinie zwischen jenen, die vom Einzelnen aus denken, und jenen, die vom Ganzen ausgehen, ist tatsächlich nicht zu übersehen. Hegel hat sie in seinen «Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie» kenntlich gemacht – und Irrlitz schrieb 1981 eine Einleitung zu diesem Werk. Er fragt, wem sich Hegel in seiner Geschichte am ausgiebigsten zuwende. Das erstaunliche Resultat: Für Jakob Böhme (Autodidakt, Schuhmacher und Mystiker an der Schwelle zum 17. Jahrhundert) brauchte Hegel ganze 36 Seiten, nennt ihn gar «den ersten deutschen Philosophen». So kann man unter Irrlitz’ Anleitung zahlreiche Entdeckungen machen.
Er hat den Widerspruch zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen nie nivelliert, sondern kultiviert. Auch nach der «Wende», als es ihm gelang, mit seinem «Kant-Handbuch» die an sich geschlossene Gesellschaft bundesdeutscher Kant-Forscher zu verblüffen und mit einem Buch zur intellektuellen Biografie von Fichte hervorzutreten. Ein Mensch, der ihm – wieder zeigt sich Bloch als Wegweiser – auch am Herzen lag, weil sich da jemand aus ärmsten Verhältnissen heraus seinen eigenen Denkweg bahnte.
Wer sich nicht der Herrschaft der Affekte überlassen will, der muss sich im Ausgleich der Widersprüche üben. Immer wieder vermag Irrlitz dabei mit originellen Lesarten seine Leser zu erstaunen, so in einem Essay zu Mörikes «Märchen vom sichern Manne». In welcher Form vermag sich eine kulturelle Tradition fortzusetzen, die, durch die Macht der Gegenwart unterbrochen, eine bessere Zukunft erwartet? Die Antwort, aus der heimliche Sympathie für die Romantik klingt: «Die Kunst wird aufgeboten gegen die Schatten der Lebenstrauer.»
Eine Idee, die fortdauert, muss immer etwas bewirken wollen. Sie verlangt jene Energie, ohne die alles Denken folgenlos bleibt. Gerd Irrlitz als Philosoph strahlt sie bis heute aus.
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