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  • Wiederaufbau in der Ukraine

Wenn Grafikdesignerinnen das Mauern lernen

Weil viele ukrainische Männer an der Front sind, arbeiten immer mehr Frauen im Handwerk

  • Moritz Gross und Sitara Ambrosio
  • Lesedauer: 7 Min.
Walentyna leitet die Schulung in Kiew. Sie vermittelt der Grafikdesignerin Wya Grundlagen des Maurerhandwerks.
Walentyna leitet die Schulung in Kiew. Sie vermittelt der Grafikdesignerin Wya Grundlagen des Maurerhandwerks.

Hunderttausende Ukrainer sind tot oder wurden verwundet. Etwa eine Million Menschen sind bei der Armee. Eine große Anzahl versucht, sich dem Wehrdienst zu entziehen. Auf den Straßen sind nur wenige Männer im Alter von 25 bis 60 Jahren in ziviler Kleidung unterwegs. Wer nicht zur Armee möchte, verlässt nur im Ausnahmefall das Haus.

Die Kontrollen der Militärbehörden werden immer regelmäßiger und engmaschiger. Sie wollen Männer für die Front rekrutieren. Die Ukraine braucht ständig neue Soldaten. Gleichzeitig haben viele das Land zumeist Richtung Westen verlassen. »Fünf Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen sind ins Ausland gegangen«, gab die ukrainische Wirtschaftsministerin Julija Swyrydenko im April der Nachrichtenagentur AP zu Protokoll.

Diese Zahl ist enorm, wenn man bedenkt, dass es nur noch neun Millionen Beschäftigte im Land gibt – vor der russischen Invasion waren es rund 19 Millionen. Die Folge ist ein akuter Fachkräftemangel in Schlüsselindustrien. In traditionellen Männerdomänen wie dem Bergbau oder der Baubranche macht sich das Fehlen besonders bemerkbar.

Aus dieser Not heraus entstehen kreative Lösungen. So bietet die Baugewerkschaft Profbud seit knapp drei Jahren Schulungen an, in denen Fachfremde lernen, wie man Mauern zieht, Wände verputzt oder Fliesen legt. Was das konkret bedeutet, zeigt sich an einem verregneten Frühlingsmorgen in Kiew.

Der Workshop liegt im Erdgeschoss eines unscheinbaren Plattenbaus in einem Kiewer Wohnviertel. Der Eingang ist leicht zu übersehen, ein kleines Schild weist auf das Kursangebot hin. In dem engen Schulungsraum versammeln sich ein Dutzend Menschen: zehn Frauen, zwei Männer – eine für einen Handwerkskurs untypische Zusammensetzung.

Die Anleiterin

Sie stehen im Halbkreis um einen großen Eimer, in dem die Kursleiterin Walentyna mit einem mannshohen Rührstab eine zähflüssige graue Masse anrührt. Die 38-Jährige trägt einen roten Pullover, eine graue Latzhose und Turnschuhe. Ihre langen Wimpern und der sorgfältig aufgetragene Lidschatten bilden einen Kontrast zu ihrer handwerklichen Aufgabe.

Nachdem Walentyna das Mischverhältnis von Wasser und Zement erklärt hat, dürfen alle selbst Hand anlegen. Viele haben noch nie zuvor eine Kelle gehalten. Manche wagen sich umgehend nach vorn, andere beobachten zunächst aus der Distanz.

Den frischen Beton transportieren die Kursteilnehmer in Eimern nebenan. Dort haben sie zuvor bereits ein Lasergerät aufgestellt, um den Boden zu nivellieren. Walentyna weist ihre Schülerinnen und Schüler an: Abstandshalter setzen, Eimer ausschütten, fertig. Während im Nebenraum schon eine Teilnehmerin selbstständig Beton anmischt, entsteht das Fundament für den Fliesenboden.

»Innerhalb von zehn Tagen lernen Leute, die noch nie etwas auf dem Bau gemacht haben, die Grundlagen«, sagt die Kursleiterin. Die Frau mit dem kräftigen Kreuz, den langen Wimpern und dem sorgfältig aufgetragenen Lidschatten unterstreicht damit das Ziel des Kurses. Hilfe zur Selbsthilfe soll es sein. »Danach kann man schon kleinere Arbeiten selber durchführen«, so Walentyna weiter. »Wer möchte, kann dann freilich weitere Kurse belegen.«

Die Kriegsschäden sind in der Ukraine verheerend. Laut dem Statistikportal »Statista« belaufen sich die seit Beginn des russischen Angriffs entstandenen Schäden an Wohngebäuden auf über 50 Milliarden Euro. Zwar befinden sich zahlreiche zerstörte Gebäude in besetzten Gebieten, doch selbst wenn diese dauerhaft an Russland fallen würden, wäre im Rest des Landes ein Bau- und Reparaturboom zu erwarten. Trotz des Krieges ist bereits im Jahr 2022 das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine von 142 auf 160 Milliarden Euro gestiegen. Sollte es einen dauerhaften Frieden geben, könnte sich dieser Anstieg von zwölf Prozent sogar noch stärker fortsetzen.

Für das Handwerk sind das gute Aussichten. Wegen des Personalmangels ergebe sich für die Beschäftigten der Baubranche eine gute Verhandlungsposition, erklärt Wassyl Andrejew, der Vorsitzende der 57 000 Mitglieder starken Gewerkschaft Profbud. Durch die vergleichsweise gute Bezahlung erhofft man sich, auch Frauen für die Branche gewinnen zu können. Laut der Jobvermittlungsseite »work.ua« verdient ein Maurer mit etwa 740 Euro monatlich über 200 Euro mehr als der Durchschnitt. Seit Kriegsausbruch ist der Verdienst um 17 Prozent in die Höhe gestiegen.

Halyna Bondartschuk ist die Vorsitzende der Baugewerkschaft in Kiew. Sie dämpft die hohen Erwartungen ihrer Branche ein wenig. Auch die Schulungen haben noch nicht viele Arbeitskräfte gewonnen. Bislang sei nur ein kleiner Prozentsatz der Teilnehmenden tatsächlich ins Baugewerbe gewechselt. Dabei bietet Profbud mittlerweile in mehreren Regionen der Ukraine solche Handwerkskurse an.

In einigen Orten wird zusätzlich mit alternativen Baumaterialien experimentiert. »Diese Wände sind aus einem Gemisch aus Stroh, Hanf und Lehm«, sagt Halyna Bondartschuk stolz und zeigt auf ein kleines Mauersegment. »In drei bis vier Tagen ist so ein Stück trocken und einsatzbereit.« Die natürliche Bauweise soll vor allem in Gegenden wie Tschernihiw, Sumy und Mykolajiw zum Einsatz kommen, wo die Zerstörungen groß sind.

Auch Kurse für Holzarbeiten, Elektrotechnik und Schweißen sind im Angebot. Zehn Tage dauert ein Durchgang, die Teilnahme ist für Mitglieder wie auch für Nicht-Mitglieder der Gewerkschaft kostenlos. Manche sind regelmäßig dabei. Wie in Kursen einer deutschen Volkshochschule knüpft man auch dort Kontakte und Freundschaften entstehen.

Doch auch in dieser entspannten Atmosphäre ist der Krieg allgegenwärtig. Nicht nur, weil es den Kurs ohne ihn nicht gäbe. »Mein Mann war drei Jahre an der Front«, sagt die 42-jährige Wya, die erstmals an einer Fortbildung teilnimmt. Derzeit befinde er sich nach einer Verletzung in der Reha. Wahrscheinlich werde er anschließend zur Armee zurückkehren, erzählt die dreifache Mutter.

Die Grafikdesignerin möchte durch den Kurs lernen, »wie ich meiner Mutter bei Reparaturen helfen kann, mein Vater ist bereits verstorben«. Hat sich für Wya in den letzten Jahren etwas verändert? »Nicht wirklich«, sagt sie mit etwas zittriger Stimme. Für sie und ihre Familie habe der Krieg 2014 begonnen. Ihr Mann habe sich damals freiwillig gemeldet. Das mache es ihr heute »einfacher, mit der Situation zurechtzukommen«.

Auch der Ehemann von Kursleiterin Walentyna ging nach der russischen Annexion der Krim und der Besetzung des Donbass zum Militär. Als Reservist meldete er sich nach der Invasion 2022 für den Fronteinsatz. Weil er aber mehrere Verletzungen erlitten hat, ist er mittlerweile vom Dienst befreit.

Dass viele ihrer Landsleute den Krieg bis zum russischen Großangriff 2022 verdrängen konnten, kann Wya »nicht nachvollziehen«. Ihre leicht ergrauten Haare sind an den Seiten rasiert. In Westeuropa erwartet man Typen wie sie in Frauenzentren und alternativen Bezirken. Doch die Frage, ob es sie freue, im Kurs hauptsächlich unter Frauen zu sein, scheint Wya zu irritieren. »Männer haben eine andere Herangehensweise, aber ich finde es gut, dass die Gruppe gemischt ist.«

Rollenbilder brechen auf

Die Kursleiterin pflichtet bei. »Für mich macht es keinen Unterschied, ob meine Schüler Frauen oder Männer sind«, sagt Walentyna. »Wer hier herkommt, ist motiviert und will arbeiten – da spielt das Geschlecht keine Rolle.« Frauen seien wohl »etwas vielseitiger«, doch sei das wichtigste, »jedem die richtige Aufgabe zuzuweisen«, dann liefe es meist problemlos.

Allerdings gibt es auch noch immer Rollenklischees. Das zeigt sich in dem Kurs, als einer der beiden Männer unter den Teilnehmenden ohne größere Fachkenntnisse sich dazu selbst ermächtigt, Beton anzusetzen und der versammelten Truppe zu erklären, wie es gemacht wird.

Dass ein emanzipatorischer Feminismus in der sich zaghaft öffnenden Ukraine noch nicht weit verbreitet ist, zeigt sich auch in der Situation, als die Fotografin in der Gruppe um einen Tampon bittet. Dieser wird fast so geheimnisvoll übergeben, als handele es sich um etwas Verpöntes, wenn nicht sogar Verbotenes. Zuvor verwiesen die tuschelnden Frauen aber den Mann, der eben noch den Beton angerührt hatte, energisch aus ihrem Kreis.

Wie in anderen osteuropäischen Ländern prägen auch in der Ukraine traditionelle Werte das gesellschaftliche Leben. Zwar »kämpfe man für Gleichberechtigung«, sagt Walentyna, doch die Frage, ob sie sich als Feministin sehe, verdutzt auch die Frau in der Arbeitshose ein wenig. Bei Profbud scheint man sich eher auf praktische Arbeit, als auf theoretische Debatten zu fokussieren.

Nach einer Stunde holen sich die ersten Teilnehmer Instant-Kaffee und Kekse. Mittlerweile ist die Sonne herausgekommen und wärmt die von Kastanien eingerahmte Terrasse vor dem Ladenlokal. Einige Leute rauchen dünne Filterzigaretten. Es wird gelacht und getratscht. Halyna Bondartschuk sitzt an einem kleinen Campingtisch und genießt die Luft. Sie blinzelt in die Sonne und schaut zufrieden auf ihre Lehrlinge. Auch das gibt es im Krieg. Einen ganz normalen Arbeitstag und ein wenig Zuversicht.

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