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- Antimuslimischer Rassismus
Muslime in Berlin unter Generalverdacht
Wer als Muslim wahrgenommen wird, erlebt zunehmend mehr Unsicherheit – das belegen neue Zahlen und Berichte aus der Hauptstadt
Warum alle Muslime Terroristen seien, fragt eine Erzieherin an einer Grundschule ihre zwei Kolleginnen, die Kopftuch tragen. Im Briefkasten mehrerer muslimischer Familien liegt ein Flyer. »An alle Moslems in Deutschland: Was immer du auch isst ... Es ist mit Schweinescheiße gedüngt«, steht darauf. Abgedruckt ist ein Foto der Bundestagsabgeordneten Nicole Höchst (AfD). Im Hintergrund sieht man zwei Männer, die eine arabische Kopfbedeckung tragen und vor einem Güllewagen stehen. Dies sind nur zwei von Hunderten Fällen, die bei Berliner Meldestellen gegen Rassismus eingegangen sind. Der Fall an der Schule ereignete sich 2024. Der Flyer wurde vor Kurzem in einem Lichtenberger Wohnhaus verteilt. Das Papier zeigt einen Tweet auf X vom offiziellen Account der bildungs- und kirchenpolitischen Sprecherin der AfD Nicole Höchst– inzwischen hat sie den Tweet gelöscht.
Antimuslimischer Rassismus ist in Berlin ein wachsendes Problem – das zeigen aktuelle Zahlen und Berichte aus der Hauptstadt. Warum nehmen Vorfälle dieser Diskriminierungsform zu? Wo und durch wen sind Betroffene besonders bedroht? Und was braucht es für mehr Sicherheit? Antirassistische Organisationen berichten im Gespräch mit »nd«.
Rassistische Gewalt steigt
Schätzungsweise sind bis zu zehn Prozent der Berliner*innen muslimisch. Wie viele es genau sind, ist schwer zu sagen. Denn wer sich muslimisch identifiziert, muss nicht Teil einer islamischen Gemeinde sein. Beim Begriff antimuslimischer Rassismus geht es laut der Definition der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) nicht nur darum, ob der Betroffene tatsächlich Muslim ist. Stattdessen trifft diese Form des Rassismus auch Menschen, die als muslimisch wahrgenommen werden. Aussehen, Kultur und Sprache spielen bei der Markierung eine Rolle.
Die durch Bundesmittel geförderte Organisation CLAIM bündelt 50 muslimische und nicht-muslimische Akteure der Zivilgesellschaft. Wie viele andere Organisationen verwendet sie in ihrer Arbeit die ECRI-Definition. CLAIM betreibt eine Melde- und Informationsstelle zu antimuslimischer Diskriminierung in Berlin. Am Mittwoch veröffentlichte diese die aktuelle Jahresbilanz. Demnach wurden im vergangenen Jahr 70 Prozent mehr Fälle registriert als 2023. 644 Vorfälle registrierte die Stelle – das entspricht zwei Vorfällen pro Tag. Fast zwei Drittel der Betroffenen waren Frauen (64 Prozent).
»Die Jahresbilanz zeigt, dass antimuslimische Übergriffe und Diskriminierungen in Berlin an der Tagesordnung sind«, sagt Rima Hanano, Ko-Geschäftsführerin von CLAIM. Den größten Anteil der registrierten Vorfälle machen Diskriminierungen aus (45 Prozent), gefolgt von verbalen Angriffen (39 Prozent). Im Jahr 2024 wurden zudem 91 Fälle »verletztenden Verhaltens« dokumentiert – dazu zählen Körperverletzung und Sachbeschädigung. In die CLAIM-Statistik sind nicht nur Daten aus der eigenen Meldestelle eingeflossen, sondern auch solche aus parlamentarischen Anfragen, aus der Polizeistatistik und aus Pressemeldungen.
Antimuslimischer Rassismus ziehe sich laut CLAIM durch alle Lebensbereiche und Institutionen. Zahlen des senatsgeförderten Forschungsprojekts Berliner Monitor aus 2023 zeigen, wie stark dieser verankert ist: 20 Prozent der befragten Berliner*innen wiesen ein geschlossenes antimuslimisches und rassistisches Denken auf, fast die Hälfte aller Befragten lehne den Islam ab.
Tatort Schule
Welche Orte sind in Berlin besonders gefährlich und wer sind die Täter? CLAIM zählte die meisten Fälle von antimuslimischem Rassismus im Bildungsbereich (35 Prozent) sowie im öffentlichen Raum (19 Prozent). Auch die Berliner Beratungsstelle für Opfer rassistischer Gewalt »ReachOut« verweist auf den Tatort Schule. »Schüler*innen berichten, dass Lehrkräfte sie rassistisch beleidigen und sie keine Räume erhalten, um über ihre Trauer, Verlust und Ängste in Bezug auf Palästina zu sprechen«, teilt eine Sprecherin »nd« mit. Eine Sprecherin von ufuq, der Berliner Fachstelle für Pädagogik zwischen Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus spricht ebenfalls über Rassismus im Klassenzimmer. »Islamkritik« in der Schule verstärke zudem »die Wahrnehmung von Jugendlichen, dass sie und die Gruppe, der sie zugerechnet werden oder der sie sich zugehörig fühlen, als Problem betrachtet, in spezifischer Weise abgewertet und ausgegrenzt wird«, teilt die Sprecherin »nd« mit.
Die kritische Auseinandersetzung mit Religion und unterschiedlichen Religionen schließe ufuq nicht aus. Stattdessen unterstütze die Fachstelle Formate, die sich generell mit Werten, Normen, Traditionen oder Glaubenssätzen beschäftigten. In den Workshops, die der Bildungsverein an Schulen organisiere, zeige sich, »dass die Jugendlichen viel mehr Gemeinsamkeiten verbinden, als etwa religiöse oder anders begründete Unterschiede sie voneinander trennen würden«.
Kein Verständnis, kein Vertrauen
Wie so häufig bei Zahlen zu steigender Gewalt, muss auch bei antimuslimischem Rassismus gefragt werden, ob ein Anstieg durch eine höhere Sensibilität in der Gesellschaft begründet sein könnte: Wo mehr Bewusstsein über Ungerechtigkeit, gibt es auch mehr Anzeigen zu diskriminierendem Verhalten.
Güzin Ceyhan von CLAIM berichtet von gegenläufigen Tendenzen: »Viele Betroffene haben eine höhere Schmerzgrenze entwickelt«, sagt sie anlässlich der Vorstellung der aktuellen Jahresbilanz. So würden viele Fälle gar nicht erst gemeldet, weil Betroffene so viel Frust hätten, dass sich nichts ändere. Ceyhan berichtet zudem von den gravierenden Folgen für Betroffene, die anzeigen. So sei einem Mann gekündigt worden, nachdem er das rassistische Verhalten seines Chefs kritisierte, der Mitglied in der AfD ist.
»Oft löst schon allein der Begriff bei vielen Menschen erst einmal Abwehr aus und das Vorhandensein von antimuslimischem Rassismus wird negiert«, teilt die Sprecherin von ufuq mit. Laut ReachOut würde antimuslimischer Rassismus außerdem weder von Behörden und Institutionen noch von der Politik anerkannt.
Der 7. Oktober und seine Folgen
Den hohen Anstieg begründeten viele der befragten Organisationen mit zwei historischen Daten: dem 11. September 2001 und dem 7. Oktober 2023. Beides Daten, die Terrorangriffe islamistischer Gruppierungen betreffen. In der Folge führten sie dazu, »dass Muslim*innen unter eine Art von Generalverdacht gerieten und sich permanent aufgefordert sehen, sich zu distanzieren«, so die Sprecherin von ufuq.
CLAIM kann die Zäsur in der eigenen Statistik nachweisen. »Nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sind neben antisemitischen Vorfällen gleichzeitig antimuslimische Vorfälle in Berlin sprunghaft angestiegen«, teilt die Organisation mit. 2024 hat CLAIM 80 Fälle von antimuslimischem Rassismus mit Palästina-Bezug dokumentiert – darunter 17 Körperverletzungen. Laut ufuq hätten öffentliche Diskurse um den Tag dazu beigetragen, dass sich viele Muslim*innen und solche, die muslimisch gelesen werden, diskriminiert fühlten oder gar als »antisemitisch« betitelt würden. Berichterstattungen hätten antimuslimische Narrative gestärkt und das Vertrauen in die Medien stark erschüttert.
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Laut ReachOut sei das Ziel solcher Debatten, »repressive, rassistische Gesetzgebungen im Schnelldurchlauf durchzusetzen und zu behaupten, dass es um mehr Sicherheit gehen würde«. So ließen sich in Berlin beispielsweise »Messerverbotszonen« durchsetzen, durch die Polizeibeamte mehr Befugnisse erhalten. Damit würden »Racial Profiling und rassistische Kontrollen« legitimiert. »In unserer Beratung erfahren wir von unverhältnismäßiger rassistischer Polizeigewalt im Zusammenhang mit palästinasolidarischen Demonstrationen«, teilt der Verein mit, der Opfer von Rassismus berät. »Erschreckend sind hierbei die lebensbedrohlichen Schmerzgriffe, die angewendet werden, zum großen Teil viral gehen, aber die Polizist*innen keinerlei staatliche Konsequenzen erfahren, sondern Beamt*innen vielmehr weiterhin ermutigt werden, diese lebensbedrohlichen Schmerzgriffe anzuwenden.«
Die Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt verweist ebenfalls auf massive Polizeigewalt bei palästinasolidarischen Demonstrationen. »Auch das ist anti-muslimischer Rassismus, da die Demonstrationen oft als ›islamistisch‹ oder ähnliches bezeichnet werden und muslimischen Menschen sowie denen, die sich solidarisieren, Gewaltbereitschaft, Extremismus und ähnliches unterstellen«, teilt eine Sprecherin der Kampagne »nd« mit. Zudem seien Razzien in Berlin überwiegend in »arabischen Geschäften, weil die Polizei von der Grundannahme ausgeht, dass dort illegale Handlungen passieren«. Die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen würden oft komplett ignoriert.
Zwischen Rückzug und Radikalisierung
Die erfahrene Ausgrenzung und das Unverständnis, das Betroffene erfahren, ziehen gravierende Folgen mit sich. »Schmerz, Rückzug, Ohnmacht, Trauer und Wut oder das Gefühl, 150 Prozent geben zu müssen, um Anerkennung zu finden«, fasst es die Sprecherin von ufuq zusammen. Das Vertrauen in öffentliche Institutionen sinke, teilen alle befragten Organisationen mit. »Dieses Ohnmachtsgefühl kann dazu führen, dass Menschen in massiven Depressionen, posttraumatischen Belastungserscheinungen bis hin zur Suizidalität« landen können, so der Verein ReachOut. Neben Rückzug gebe es laut ufuq noch andere Folgen für Betroffene: »Ausschluss, fehlende Beteiligung, Einsamkeit und fehlende Räume können aber generell bei Jugendlichen zu Radikalisierungsprozessen beitragen – wie es sich beispielsweise gerade auch in dem Erstarken der jungen rechtsextremen Szene zeigt.«
Die befragten Organisationen fordern nicht nur Anerkennung von antimuslimischem Rassismus, sondern auch politische Maßnahmen. Darunter der Ausbau von Berliner Hilfsangeboten. »Beratungsstellen sind seit Jahren überlastet«, so ReachOut. »Finanzielle Kürzungen in Berlin haben in der letzten Zeit auch Bildungsprojekte und die Jugendarbeit getroffen, die besonders für (mehrfach-) diskriminierte Jugendliche essenziell wichtige Anlaufstellen darstellen«, so ufuq. Die Workshops, die ufuq anbiete, seien bis Ende 2025 ausgebucht. »Hier können wir also einen ganz konkreten nicht gedeckten Bedarf erkennen. Eine Aufstockung der Mittel ist unklar.«
Ufuq teilt die Forderungen von CLAIM, die diese als Zusammenschluss von 50 Organisationen aufgestellt hat, um antimuslimischen Rassismus zu bekämpfen. Zu den acht Forderungen gehört, Berliner Beratungsangebote auszubauen und dauerhaft abzusichern. Außerdem brauche es unabhängige Informations- und Beschwerdestrukturen in Schulen und Polizei. CLAIM fordert zudem, das Berliner Neutralitätsgesetz abzuschaffen, das kopftuchtragende Frauen aus dem Staatsdienst ausschließt. Die Forderungen versteht die Organisation als Ergänzung zu den Handlungsempfehlungen der Berliner Expert*innenkommission antimuslimischer Rassismus. »Der Berliner Senat reagiert nicht angemessen auf den Bericht der Kommission«, so Hanano.
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