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- Interview mit Marcus Rediker
Der Kapitalismus entstand auf hoher See
Der Historiker Marcus Rediker über sein Buch »Das Sklavenschiff«, transatlantischen Menschenhandel und Geschichte von unten
Ihr Buch »Das Sklavenschiff« erschien in den USA bereits 2007, die deutsche Übersetzung erst 17 Jahre später. Wie erklären Sie sich das?
Das Interesse an dem Buch hängt natürlich immer stark davon ab, wie groß das Bewusstsein für die Themen Race und Sklaverei in einem Land ist. »Das Sklavenschiff« wurde inzwischen in 14 Sprachen übersetzt. In Deutschland herrschte lange die Idee vor, dass der Sklavenhandel nicht viel mit der eigenen Geschichte zu tun habe. Was nicht wirklich stimmt: Die 1682 gegründete Brandenburg-Afrika-Kompanie war ein durchaus bedeutender Akteur des transatlantischen Sklavenhandels.
Ihre Arbeitsmethode ist die Geschichtsschreibung »von unten«. Was ist das Spezifische daran?
Es geht darum, Leben und Bewusstsein arbeitender Menschen zu rekonstruieren. Das Problem ist natürlich, dass arbeitende Menschen in der Regel wenig Dokumente hinterlassen. Im Fall der Sklaverei ist dieses Missverhältnis besonders extrem. Obwohl vom Hafen Ouidah im heutigen Benin eine Million Menschen als Sklaven verschifft wurden, besitzen wir von ihnen nur zwei Schilderungen in der ersten Person. Insgesamt ist der transatlantische Sklavenhandel recht gut dokumentiert, doch die Sklavenhändler versuchten natürlich die Identität der Menschen auszulöschen. Eine große Herausforderung besteht deshalb darin, die von Eliten hinterlassenen Dokumente gegen den Strich zu lesen. Man muss ein Gespür dafür entwickeln, was die Mächtigen in ihren Texten auslassen und verschleiern.
Marcus Rediker, Jahrgang 1951, kommt aus einer Arbeiterfamilie im Süden der USA, was seinen Zugang zu den Gesellschaftswissenschaften nachhaltig prägte. Er studierte an der University of Pennsylvania und widmete sich vor allem der Geschichte der Seefahrt. International bekannt wurde er mit »Die vielköpfige Hydra« (gemeinsam mit Peter Linebaugh, Assoziation A, 2008/2000), in dem die beiden Autoren die Geschichte des multiethnischen See-Proletariats auf dem Atlantik rekonstruieren. Mit »nd.DieWoche« sprach Rediker über sein Buch »Das Sklavenschiff« (Assoziation A, 2024/2007).
Vielleicht können Sie noch etwas genauer beschreiben, was die »Geschichtsschreibung von unten« auszeichnet.
Sie steht in der Tradition von Historikern wie Lucien Febvre und Georges Lefèbvre in Frankreich oder A. L. Morton in Großbritannien. Aber mit den sozialen Bewegungen der 60er Jahre gab es eine wahre Explosion auf diesem Feld. Schwarze, Frauen, Arbeiter*innen usw. forderten nicht nur politische Macht, sondern auch eine neue Interpretation der Geschichte, um Race und Sklaverei, den US-Imperialismus und vor allem die Rolle von Frauen neu zu betrachten. Ich habe meine Forschungsarbeit immer als einen Beitrag zu diesen Bewegungen verstanden.
In Ihrem Buch beschreiben Sie das Sklavenschiff als Fabrik. Der afrokaribische Theoretiker C. L. R. James schrieb in »Die schwarzen Jakobiner« dasselbe über die Zuckerrohrmühle. Was meinen Sie damit?
Das Wichtige an der Beobachtung von C. L. R. James ist, dass man durch sie einen anderen, weniger auf Europa fokussierten Blick auf die Geschichte des Kapitalismus bekommt. In meinem ersten Buch »Between the Devil and the Deep Blue Sea«, das ich 1987 über die Piraterie im frühen 18. Jahrhundert schrieb, habe ich mich erstmals mit der These beschäftigt, dass wir das Segelschiff als komplexe Maschine interpretieren sollten: Zahlreiche Arbeiter*innen aus ganz unterschiedlichen Kontexten sind an Bord, werden gewaltsam einer strikten Disziplin unterworfen und müssen im Dienst der Maschine kooperieren. Außerdem waren die Hochsee-Segelschiffe für das Entstehen des Kapitalismus ebenso wichtig wie die Dampfmaschine. Erst das Schiff erlaubte es Europa, unterschiedliche Weltregionen in einen einzigen Weltmarkt zu zwingen.
Aber was produziert das Sklavenschiff?
Massenhafte Arbeitskraft und Rassifizierung. Menschen werden in Westafrika enteignet, verschleppt und dann dem Plantagensystem auf der anderen Seite des Ozeans zugeführt. Das Überraschende für mich war, dass das Schiff dabei auch an der Herstellung von »Rasse«-Kategorien mitwirkt. Normalerweise besteht die Besatzung eines Schiffs aus 40 Seeleuten, die aus verschiedenen europäischen Ländern, aber auch aus Afrika stammen. Die Crew ist also multiethnisch, ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Wenn sich dieses Schiff der westafrikanischen Küste nähert, werden die Seeleute zu »Weißen«. Nicht wegen ihrer Hautfarbe, sondern weil sie die Maschine bedienen. Umgekehrt bestehen die Versklavten aus ganz unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Häufig werden sie extra so zusammengestellt, dass sie keine gemeinsame Sprache sprechen. Wenn sie auf der anderen Seite des Atlantiks ankommen, sind sie homogenisiert: die sogenannte Negro Race. Beide Gruppen werden also rassifiziert, aber interessanterweise verlieren die Seeleute auf der Überfahrt einige der Rassifizierungsmerkmale. Das Schiff produziert also rassifizierte Identitäten.
Wie kann man die soziale Spaltung auf den Schiffen beschreiben? Ist es sinnvoll, hier von Klassen zu sprechen?
Eine meiner zentralen Fragen war, ob sich Seeleute mit Versklavten solidarisierten. Tatsächlich ist das selbst bei schwarzen Seemännern nur selten passiert. Das liegt daran, dass die Grenzen zwischen den Hautfarben »poliziert« wurden. Es herrschte ein duales Terrorsystem an Bord: eines für die Versklavten, ein anderes für die Crew. Es gibt den Bericht eines Mannes, der als Zehn- oder Elfjähriger als Versklavter auf einem Schiff war. Olaudah Equiano war absolut schockiert über das Schiff, er verstand seine Funktion nicht. Noch relativ früh auf der Reise schlug der Kapitän dann einen Seemann zu Tode, und Equiano begriff, dass das nicht nur eine Botschaft an die Mannschaft, sondern auch an die Versklavten war. »Wenn sie sich untereinander so behandeln, was werden sie dann uns antun?« Das war das duale Terrorsystem dieser Schiffe.
Trotzdem gab es auch Momente der Solidarisierung.
Ja, die Seeleute erkrankten oft schwer – beispielsweise an Malaria. Sie wurden dann in der Karibik oder Südamerika einfach zurückgelassen. Ich fand Hinweise darauf, dass afrikanische Frauen, die wussten, wie man die Malaria behandelt, Seeleute gesundpflegten. Sie kümmerten sich also um dieselben Menschen, die für das Terrorregime auf den Schiffen verantwortlich gewesen waren. Ich fand das sehr berührend, allerdings hatte es wohl auch einen instrumentellen Aspekt: Wurden die Seeleute wieder gesund, waren sie diesen afrikanischen Frauen verbunden und konnten vielleicht etwas für sie tun.
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Der schwarze Theoretiker W. E. B. Du Bois spricht davon, dass die weiße Arbeiterklasse durch den Rassismus einen »psychologischen Lohn« bezieht: Sie darf sich als etwas Besseres fühlen. Lässt sich das auch über die weißen Seeleute sagen?
Ich denke, dass es diese Wages of Whiteness auch für Seeleute gab, aber dass sie eine geringere Rolle spielten. Die Crew war so multiethnisch, dass sie nur schwer eine auf Hautfarbe beruhende Identität ausbilden konnte. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, ein Motley Mob. Zwar wurde die Arbeit an Bord ab dem 18. Jahrhundert rassifiziert und schwarze Seeleute durften nur noch bestimmte Arbeiten verrichten. Aber im 17. Jahrhundert war der Umgang noch egalitärer, was sich vor allem auf den Piratenschiffen manifestierte.
Wie muss man sich die Situation auf den Sklavenschiffen konkret vorstellen?
Im Durchschnitt waren 300 Versklavte und 40 Mann Besatzung an Bord. Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass diese Schiffe nicht sehr groß waren. Von der in Liverpool gebauten »Brooks« beispielsweise gibt es detaillierte Zeichnungen. Obwohl das Schiff nur 30 Meter lang und 8 Meter breit war, wurden oft 500 Menschen hineingepfercht. Es war grauenhaft, die Menschen lagen buchstäblich aufeinander. In South Carolina hieß es, dass man Sklavenschiffe riechen könne, bevor man sie sehe. Exkremente, Krankheit, Tod – das bestimmte das Leben an Bord. In den 400 Jahren des transatlantischen Sklavenhandels lag die Sterblichkeitsrate im Durchschnitt bei zwölf Prozent, aber bei manchen Überfahrten starb mehr als die Hälfte der Menschen. Jeden Morgen schickte der Kapitän seine Leute unter Deck, um die Toten heraufzubringen. Sie wurden einfach ins Wasser geworfen. Es gab Haie, die den Sklavenschiffen auf dem Weg über den Atlantik folgten.
Eine frühindustrielle Form der Massendeportation und -tötung. Warum gab es nicht mehr Rebellionen dagegen?
Sie kamen schon vor, ereigneten sich aber meist, bevor sich ein Schiff weit von der Küste entfernt hatte. Auf hoher See stellte sich nämlich das Problem, wie man das Schiff steuern sollte. In »The Amistad Rebellion« (2012) habe ich über eine erfolgreiche Rebellion geschrieben, die sich 1839 vor Kuba ereignete. Sie wurde möglich, weil die Versklavten alle militärisch trainiert waren. Außerdem wusste einer der Aufständischen, wie man ein Schiff steuert. Wenn während der Überfahrt zu viele Seeleute starben, wählte der Kapitän manchmal Versklavte als Matrosen aus. Wahrscheinlich war das auch in diesem Fall so. Die Aufständischen steuerten ihr Schiff nach Norden, wurden in New York vor Gericht gestellt und freigesprochen, sodass sie nach Sierra Leone zurückkehren konnten. Aber erfolgreiche Revolten dieser Art waren sehr selten.
Auch die weißen Seeleute waren oft nicht freiwillig an Bord.
Ja, weiße Seeleute wollten nicht gern nach Westafrika. Die Krankheiten und die Lage an Bord waren berüchtigt. Deshalb kooperierten die Kapitäne der Sklavenschiffe mit Kneipenbesitzern und Polizisten. Wer volltrunken in einer Kneipe endete oder im Gefängnis landete, wurde oft gegen den eigenen Willen auf die Schiffe gebracht.
Ihr Buch »Die vielköpfige Hydra« ist eine Geschichte der transnationalen Arbeiterklasse auf See. Was könnten wir für die politischen Kämpfe der Gegenwart daraus lernen?
Peter Linebaugh und ich haben das Buch gegen die vorherrschende Geschichtsschreibung verfasst, in der sich die Arbeiterklasse aus weißen Männern zusammensetzt, die ihr Geld in der Fabrik verdienen. Die Arbeiterklasse ist viel älter als das. Der »zusammengewürfelte Haufen« auf den Schiffen ist so wichtig, weil auf diese Weise die Infrastruktur des atlantischen Kapitalismus erschaffen wurde. Die Arbeiterklasse von heute ist dem Motley Mob viel ähnlicher als der klassischen Industriearbeiterschaft. Natürlich gab es auch im atlantischen Proletariat Spaltungslinien, zugleich existierten aber auch erstaunliche Formen der Kooperation. Der vorherrschende Klassenbegriff hat uns blind dafür gemacht, dass es immer schon gemeinsame Kämpfe von Schwarzen und Weißen gab. Die Proteste nach der Ermordung George Floyds 2020 stehen für mich in der Tradition dieser Kämpfe.
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