»Mein letzter Hungerstreik ist noch nicht so lange her«

Karin über das Leben in der Wohnungslosigkeit, ihre Ablehnung von Gewalt und politisches Engagement

  • Interview: Inga Dreyer
  • Lesedauer: 7 Min.
Recht auf Wohnen – »Mein letzter Hungerstreik ist noch nicht so lange her«

Sie sind kürzlich 70 Jahre alt geworden und seit einigen Jahren wohnungslos. Wo schlafen Sie im Moment?

In einer Notübernachtung für Frauen. Das ist gut für mich, weil ich mein Essen selbst machen kann. Ich bin seit mehr als 20 Jahren Veganerin und kann dort meinen Rohkostsalat zubereiten. Das ist so wichtig für mich, dass es andere Dinge abmildert, die für mich sehr belastend sind. Wegen meiner Einstellung, gewaltfrei zu leben und als Buddhistin habe ich es schwerer als viele andere und auch das Verhalten vieler anderer wohnungsloser Frauen ist nicht leicht für mich. Es ist schwierig, mit fünf fremden Frauen in einem kleinen Zimmer zu übernachten. Da gibt es meist Diskussionen darüber, ob nachts das Fenster auf sein soll und ich bekomme zu wenig frische Luft. Manchmal gehe ich mitten in der Nacht kurz raus, weil es so stickig ist. Ich finde auch schwierig, dass ich viel später schlafen gehe, als ich es in einer anderen Situation tun würde und früher wach werde. Ich bekomme sehr wenig Schlaf.

Wie lange können Sie in der Notübernachtung bleiben?

Drei Wochen. Dann muss ich mir etwas anderes suchen. In den meisten Unterkünften kann man nur eine, zwei oder drei Wochen bleiben und muss dann wechseln. Jetzt ist gerade eine Einrichtung wegen Bettwanzen geschlossen und es wird noch ein bisschen schwieriger, einen Schlafplatz zu finden. Ich habe auch mal zwei Nächte am Flughafen verbracht, weil ich nichts gefunden habe. Dort bin ich geschützt und kann die ganze Nacht in einem Café sitzen. Ich unterhalte mich viel mit anderen Frauen und höre, was es bedeutet, draußen zu schlafen: ständige Angst vor Gewalt, Vergewaltigungen und Übergriffen. Viele Frauen machen auf der Straße die Erfahrung, dass keine Rücksicht auf sie genommen wird. Ich erlebe es als ältere Frau oft, dass ich behandelt werde, als wäre ich Luft – besonders von Männern. Das finde ich erschreckend.

Interview

Karin, die im Interview nur ihren Vornamen nennen möchte, ist während der Corona-Pandemie wohnungslos geworden. Sie ist Diplomübersetzerin und hat ein Zweitstudium der Psychologie begonnen, aber nicht zu Ende geführt. Die 70-Jährige hat viele Jahre in Neuseeland gewohnt und lebt aktuell in Berlin. Ihre Rente reicht nicht aus, um eine Wohnung zu mieten. Wenn es möglich ist, besucht Karin Kunst- und Kulturveranstaltungen, was sie als Ausgleich zu den belastenden Erfahrungen beschreibt, die sie als ältere, wohnungslose Frau macht.

Sie haben vor ein paar Tagen der Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, Cornelia Seibeld, einen sechsseitigen Brief überreicht. Was stand dort drin?

Ich beschäftige mich sehr intensiv mit Menschenrechten und argumentiere in dem Brief, dass jeder Mensch das Recht auf eine angemessene Wohnung hat. Ich beziehe mich unter anderem auf Artikel 13 des Grundgesetzes: »Die Wohnung ist unverletzlich« und auf Artikel 2: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«. Jeder Mensch hat außerdem laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie darauf, am kulturellen Leben und am wissenschaftlichen Fortschritt teilzunehmen. All diese Rechte werden meiner Ansicht nach massiv eingeschränkt. Ich habe in dem Brief auch geschrieben, dass es meiner Beobachtung nach verschiedene Gründe gibt, wohnungslos zu werden. Auch Menschen, die sich an das Gesetz halten und die keine Drogen nehmen, können in eine solche Lage kommen – unter anderem wegen Gewalterfahrungen durch Behörden, Mitmenschen, gesellschaftlichen Strukturen. Ein großes Problem ist der massive Mangel an Wohnraum.

Was sollte die Politik Ihrer Meinung nach tun?

Ich denke, Prävention sollte der Hauptansatz sein, damit Wohnungslosigkeit erst gar nicht entsteht. Das zwischenmenschliche Leben sollte so gestaltet werden, dass sich Menschen wohlfühlen. Das heißt, Vielfalt sollte gefördert und strukturelle Gewalt abgeschafft werden. Es sollte eingeschritten werden, wenn Gewalt gegen Frauen ausgeübt wird. Die Hilfen für Suchtkranke müssten verbessert und die Renten erhöht werden. Ich denke, ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre ein sehr guter Ansatz für ein besseres Miteinander. Auch die Unterstützung für Wohnungslose sollte verbessert werden, gerade für Frauen. Ich setze mich persönlich sehr dafür ein, dass der »Unterschlupf« erhalten bleibt, ein Tagestreff für obdachlose Frauen in Kreuzberg. An diesem Ort habe ich wirklich das Gefühl, dass die Würde und die Menschenrechte jeder Frau besonders beachtet werden und man sich um unsere individuellen Bedürfnisse kümmert.

Wie sind Sie wohnungslos geworden?

Das war eine Folge der Corona-Maßnahmen. Erst hatte ich das Gefühl, ich kann in meiner Wohnung nicht mehr schlafen. Es gab damals massive Verletzungen der Rechte von Menschen durch die Politik, mit denen ich nicht einverstanden war. Da wollte ich mich mit anderen solidarisch zeigen. Ich habe im Sitzen am Flughafen übernachtet und das als Protestmittel genutzt, um an die Fraktionen des Bundestages zu appellieren. Ich habe zu dieser Zeit auf einem Ausflugsschiff gearbeitet. Während der Lockdowns durfte es nicht mehr fahren. Irgendwann kam auch die Vorschrift, dass ich mich hätte impfen und testen lassen müssen, was ich nicht wollte. Dadurch habe ich meinen Job verloren. Dann habe ich zwei Jahre von meinen Ersparnissen gelebt. Das hat gerade so gereicht. Jetzt bekomme ich Altersrente. Aber das ist so wenig, dass ich damit keine Wohnung mieten kann.

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Sie sind ein sehr politischer Mensch. Woher kommt das?

Ich denke, die Flucht aus der DDR hat dazu beigetragen. Ich war damals noch ein Kind, nicht einmal sechs Jahre alt. Später habe ich verstanden, warum meine Eltern das gemacht haben und bin ihnen auch dankbar dafür. Meine Eltern sind mit den politischen Verhältnissen nicht zurechtgekommen und wollten mehr Freiheit. In der DDR hätte ich die Möglichkeiten nicht gehabt, die ich im Westen hatte. Wir haben damals unser neu gebautes Haus zurückgelassen, meine Großeltern, alle meine Freund*innen. Ich erinnere mich noch gut an dieses Gefühl und ich denke, daher kommt meine Empathie für Flüchtlinge und andere Menschen in solchen Situationen. Meine erste eigene politische Aktion war, dass ich mit 14 Jahren meine Englischlehrerin gefragt habe, ob wir ein Lied gegen den Vietnamkrieg ins Deutsche übersetzen können. Bei den schrecklichen Bildern, die ich im Fernsehen gesehen habe, hatte ich das Gefühl, dass ich etwas tun muss. Aber in dem Alter kann man ja noch nicht so viel tun. Im Studium habe ich mich dann sehr für Menschenrechtspolitik interessiert.

Später haben Sie zu drastischeren Mitteln gegriffen. Wie ging das los?

Ja. Bei meinem ersten Hungerstreik ging es um Unterhalt. Ich hatte nach der Trennung von meinem Mann mit zwei kleinen Kindern überhaupt kein Geld. Ich habe innerhalb von zwei Monaten 16 Kilo abgenommen und schließlich erreicht, was ich wollte. Es hat den Prozess beschleunigt und ich habe dann von meinem geschiedenen Mann Unterhalt bekommen. Mein letzter Hungerstreik ist noch gar nicht so lange her. Das war Anfang dieses Jahres. Ich habe beobachtet, dass immer mehr gegen das Menschenrecht auf Asyl verstoßen wird. Ich bin selbst Flüchtling. Das hat mich sehr beschäftigt, weil ich es unvorstellbar finde, wenn Menschen vor Gewalt, Krieg und Hunger flüchten und dann einfach so zurückgewiesen werden. Es muss auf jeden Fall geprüft werden, ob jemand Recht auf Asyl hat.

Wie hat Ihr Umfeld auf Ihre Wohnungslosigkeit reagiert?

Ich habe eine sehr gute Freundin und einen Bekannten, die mich unterstützen. Auch zu meinem Bruder habe ich Kontakt. Er versteht mich. Meine Kinder kommen damit anscheinend nicht gut zurecht. Zu ihnen habe ich keinen Kontakt. Ich hoffe sehr, dass sich das irgendwann wieder ändert.

Wie stellen Sie sich die Zukunft vor?

Ich habe lange in Neuseeland gelebt und ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich wirklich in Deutschland bleiben will. Mein Bruder hat vorgeschlagen, dass ich in einem Caravan auf einem Campingplatz leben könnte. Das könnte ich mir vorstellen. Vielleicht probiere ich es aus und gucke, wie es mir damit geht.

Transparenzhinweis: Inga Dreyer arbeitet ehrenamtlich im erwähnten »Unterschlupf« mit.

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