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Die DFB-Frauen als Rückschlag-Expertinnen

Deutschlands Fußballerinnen kämpfen sich gegen alle Widerstände ins Halbfinale der EM

  • Lennart Garbes
  • Lesedauer: 6 Min.
Ann-Katrin Berger hielt im EM-Viertelfinale gegen Frankreich im Elfmeterschießen zweimal stark und verwandelte selbst.
Ann-Katrin Berger hielt im EM-Viertelfinale gegen Frankreich im Elfmeterschießen zweimal stark und verwandelte selbst.

Matchpläne sind nicht mehr wegzudenken aus dem modernen Fußball. Für jedes Spiel braucht es einen. Mit taktischen Vorgaben, die genau für ein Spiel und einen Gegner ausgearbeitet werden, sollen dessen Stärken neutralisiert und Schwächen ausgenutzt werden. Für das EM-Viertelfinale hatten Bundestrainer Christian Wück und seine Spielerinnen eine ganze Woche, um an allen Feinheiten ihres Plans zu arbeiten. So viel Zeit lag zwischen dem letzten Gruppenspiel gegen Schweden und dem Duell mit Frankreich am Samstagabend im St.-Jakob-Park in Basel.

Zu sehen war der deutsche Matchplan für ungefähr drei Minuten. Dann schlug der Rechtsverteidigerinnen-Fluch wieder zu, der das DFB-Team bei dieser EM erbarmungslos verfolgt. Nachdem sich Kapitänin Giulia Gwinn im ersten EM-Spiel bereits schwerer am Knie verletzt hatte und Gwinn-Ersatz Carlotta Wamser nach ihrem Platzverweis gegen die Schwedinnen diesmal nur zugucken durfte, erwischte es im Viertelfinale auch die dritte Lösung für rechts hinten. Sarai Linder, die bisher in allen EM-Spielen als Linksverteidigerin gestartet war, wechselte gegen die Französinnen auf rechts, knickte nach drei Minuten in einem Zweikampf um und musste nach langer Behandlungspause schließlich ausgewechselt werden.

Die nächste frühe Rote Karte

In der zwölften Minute schien dann endgültig alles schiefzugehen, was sich die DFB-Frauen vorgenommen hatten. Nach einem Freistoß zog Kathi Hendrich, die vom Bundestrainer neu in die Innenverteidigung beordert worden war, ihrer Gegenspielerin im deutschen Strafraum an den Haaren. Die logische Folge war der Platzverweis und Elfmeter für die Französinnen. Dabei war die 33-jährige Hendrich extra ins Team gekommen, um mit ihrer Erfahrung von 85 Länderspielen der wackeligen deutschen Abwehr gegen die offensivstarken Französinnen mehr Sicherheit und Stabilität zu geben. Stattdessen lag Deutschland nach dem von Grace Geyoro erfolgreich verwandelten Strafstoß früh in der ersten Halbzeit mit 0:1 hinten und war von nun an noch zu zehnt unterwegs.

»Es waren ziemlich viele Nackenschläge gleich am Anfang, mit der Roten Karte, mit der Verletzung von Sarai«, gab Christian Wück nach dem Spiel zu. Umso bemerkenswerter war, wie sein Team auf diese Rückschläge reagiert hatte. Direkt nach dem Elfmeter bildeten die deutschen Spielerinnen einen Kreis, um sich neu zu besprechen. »Wir wollten da noch mal einen klaren Kopf bewahren, gerade weil wir in den letzten Spielen Unsicherheit gezeigt haben, als wir in Rückstand geraten sind«, verriet Sjoeke Nüsken. In der Gruppenphase hatten die Gegentreffer gegen Dänemark und Schweden zu merklichen Brüchen im Spiel der Deutschen geführt. Im Viertelfinale kam es ganz anders.

Das DFB-Team entdeckt die Liebe zum Verteidigen

Mit großer Überzeugung und noch größerem Kampfgeist ließen sich die deutschen Fußballerinnen auf ihre Außenseiterinnen-Rolle ein. Ersatz-Kapitänin Janina Minge rückte aus dem defensiven Mittelfeld wieder zurück ins Abwehrzentrum. Deutschlands Offensivstars auf den Flügeln, Klara Bühl und Jule Brand, arbeiteten aufopferungsvoll mit nach hinten und die überraschend für Lea Schüller im Sturmzentrum aufgebotene Giovanna Hoffmann lief unermüdlich jedem langen Ball aus der deutschen Hälfte hinterher. Ein Nachsetzen der Stürmerin von RB Leipzig erzwang dann auch jenen Eckball, der dem DFB-Team nur zehn Minuten nach dem Rückstand das 1:1 bescheren sollte. Hoffmann sprintete einem Pass von Bühl hinterher, Frankreich klärte etwas unglücklich ins Toraus und kurz darauf traf Sjoeke Nüsken per Kopf zum Ausgleich.

Danach entdeckte das DFB-Team immer mehr die Liebe zum Verteidigen – obwohl die Defensive eigentlich als die Schwachstelle der Deutschen gilt. Mit einer deutlich tieferen Abwehrreihe fielen die Geschwindigkeits- und Abstimmungsdefizite in der deutschen Hintermannschaft gegen Frankreich nicht so stark auf. Dazu wuchsen Sophia Kleinherne, die für die verletzte Linder eingewechselt worden war, und die erst 20-jährige Franziska Kett bei ihrer EM-Premiere auf den defensiven Außenbahnen gegen die gefährlichen französischen Flügelstürmerinnen regelrecht über sich hinaus. Zur Wahrheit gehört zwar auch, dass Frankreich zwei Tore wegen knapper Abseitsstellungen aberkannt wurden, doch auch davon ließen sich die Deutschen nicht beeindrucken. Selbst als Nüsken in der 69. Minute einen etwas glücklich herausgeholten Elfmeter verschoss, strauchelte das Team nicht, sondern verteidigte sich gemeinsam und konzentriert weiter bis in die Verlängerung.

»Wir hätten es nicht hinbekommen, wenn nur eine Spielerin weggebrochen wäre. Das sind sie Gott sei Dank nicht und deswegen bin ich so stolz auf diese Mannschaft«, erklärte Bundestrainer Wück nach dem Spiel. Auch in den 30 Extraminuten hielt sein Team die Französinnen weitestgehend vom eigenen Tor weg. Geprüft wurde Torhüterin Ann-Katrin Berger trotzdem. In der 103. Minute misslang der ansonsten überragenden Abwehrchefin Minge doch noch eine Klärungsaktion. Ein verunglückter Kopfball senkte sich wie eine Bogenlampe über Berger hinweg. Doch die deutsche Keeperin fischte den Ball mit einer Weltklasse-Flugeinlage im letzten Moment auf der Linie aus dem Tor.

Ann-Katrin Berger lässt alle Kritiker verstummen

»Ich weiß nicht, wie ich da noch hingekommen bin, ganz ehrlich«, sagte die 34-Jährige über ihre Glanzparade, die nur der Anfang der Berger-Show kurz vor Mitternacht sein sollte. Als es nach 120 Minuten mit 1:1 ins Elfmeterschießen ging, parierte Berger gleich den ersten Elfer, verwandelte später selbst und hielt schließlich auch den alles entscheidenden Versuch von Alice Sombath, der den 6:5-Erfolg besiegelte. Nach dem zweiten Vorrundenspiel gegen Dänemark war die deutsche Nummer eins in der Presse und auch vom Bundestrainer noch für ihr risikoreiches Spiel kritisiert worden und hatte im folgenden Duell gegen Schweden deutlich verunsichert gewirkt. Gegen Frankreich meldete sich Berger umso eindrucksvoller zurück.

»Ich habe einfach nur meinen Teil dazu beigetragen, aber die Mannschaft hat die ganze Arbeit gemacht. Deswegen finde ich es immer schade, dass dann nur mir als Torhüterin applaudiert wird«, gab sich die Heldin des Abends nach ihrer grandiosen Leistung im St.-Jakob-Park gewohnt bescheiden und emotionsarm. Ein bisschen Feuer blitzte danach aber auch bei Berger auf: »Jetzt müsste jede Mannschaft vor uns Angst haben«, prognostizierte die Torhüterin mit Blick auf das Halbfinale, in dem am Mittwoch Weltmeister Spanien wartet. Egal, wie lange der Matchplan dann funktionieren wird, für Rückschläge jeglicher Art scheint dieses deutsche Team inzwischen bestens gewappnet.

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