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Drohnen und Drohungen zum Festtag
Wolodymyr Selenskyj beschwört zum Unabhängigkeitstag eine Ukraine, die es so kaum gibt
Die Ukraine hat ihren Unabhängigkeitstag mit Beschuss russischer Energieanlagen, Geldgeschenken aus dem Westen und einer markigen Rede von Präsident Wolodymyr Selenskyj begangen. Ukrainische Drohnen griffen unter anderem die Ölraffinerie im Ostseehafen von Ust-Luga an. Man habe zehn Drohnen abgeschossen, schrieb der Gouverneur des die Millionenstadt St. Petersburg umgebenden Leningrader Gebiets, Alexander Drosdenko, auf Telegram. »Die Trümmer eines unbemannten Flugapparats wurden zur Ursache für einen Brand am Novatek-Terminal«, Feuerwehr und Katastrophenschutz seien im Löscheinsatz.
Kritischer war der Angriff auf das Atomkraftwerk Kursk. Dort hatte die Luftabwehr russischen Angaben zufolge in der Nacht eine ukrainische Drohne abgeschossen, die anschließend einen Hilfstransformator beschädigt habe. Das Feuer sei gelöscht. Die Leistung des Blocks 3 des Atomkraftwerks sei halbiert worden – die Strahlungswerte seien normal, schrieb die Leitung des AKW in den sozialen Medien.
Erneute Forderung von Sicherheitsgarantien
In seiner Rede zum Unabhängigkeitstag merkte Selenskyj an, mit den Angriffen Moskau an den Verhandlungstisch zwingen zu wollen: »So schlägt die Ukraine zu, wenn ihre Aufrufe zum Frieden ignoriert werden.« Selenskyj gab sich in seiner Ansprache kampfbereit und kompromisslos. Die USA und Europa seien sich einig, dass die Ukraine noch nicht gewonnen habe, aber mit Sicherheit nicht verlieren werde. Außerdem werde man nie etwas zustimmen, »was die Russen Kompromiss nennen«.
Selenskyj merkte an, dass die Ukraine nach dem Krieg »einen stabilen, zuverlässigen und dauerhaften Frieden« brauchen werde. »Die Ukraine wird ihn bekommen, weil sie Sicherheitsgarantien erhalten wird. Diese werden so stark sein, dass es niemandem auf der Welt mehr in den Sinn kommen wird, die Ukraine anzugreifen«, fügte Selenskyj hinzu.
Selenskyj will bei den Ukrainern punkten
Mit seiner markigen Rede wollte Selenskyj Eindruck schinden nach innen, nicht nach außen. Internationale Gäste waren in diesem Jahr rar. Neben dem US-Sondergesandten Keith Kellog, der gleich einen Orden von Selenskyj bekam, war Kanadas Premier Mark Carney als einziger Regierungschef anwesend. Der Rest der Unterstützer beließ es bei Glückwunschschreiben und Geldgeschenken für neue Waffen. Ein »massives Zeichen« an Unterstützung sieht anders aus.
Selenskyj war zuletzt nach seinem Angriff auf Antikorruptionsermittler innenpolitisch unter massiven Druck geraten. Vorwürfe autoritärer Tendenzen wurden laut, die Zustimmungswerte sanken. Mit seiner jetzt verlautbarten »Kompromisslosigkeit zum Schutz nationaler Interessen« wolle der Präsident sich als starker Mann präsentieren und Vertrauen zurückgewinnen, meinen ukrainische Beobachter.
Kompromisse scheinen immer wahrscheinlicher
Ob ihm das gelingen kann, ist angesichts der realen Situation fraglich. Denn den großen Druck, dem Selenskyj widerstehen will, gibt es so noch nicht. Auch das Glückwunschschreiben von US-Präsident Donald Trump, der zum Kriegsende aufrief und eine Verhandlungslösung unterstützte, deutet darauf hin, dass Selenskyj kaum so eisern sein wird, wie er vorgibt. Schleierhaft, wie der Ukrainer sich dem verwehren will.
Dieses Dilemma zeigt sich auch bei den Sicherheitsgarantien. Aus ukrainischen Quellen heißt es, das Präsidialamt verhandle aktuell mit den westlichen Unterstützern nicht über Sicherheitsgarantien, sondern über die Finanzierung der Armee, die für das kommende Jahr noch nicht vollständig gesichert ist.
Vor allem in US-Medien wird immer offener davon gesprochen, dass Kiew zu einem schmerzlichen Kompromiss bereit sein könnte und seine Armee aus dem Donbass zurückzieht, um im Gegenzug Sicherheitsgarantien samt Friedenstruppen zu erhalten. Selenskyj hatte einen Rückzug bisher kategorisch ausgeschlossen. In seiner Rede am Sonntag sprach er stattdessen von der Rückholung der besetzten Gebiete in der Zukunft und einem starken ukrainischen Volk. Sätze wie diese lösen bei vielen Ukrainern allerdings nur noch Kopfschütteln aus. Im Internet beklagen die Menschen ihre Erschöpfung vom Krieg, in dem sie keinen Sinn mehr sehen. Auch werden immer mehr Stimmen lauter, die an der Absicht zweifeln, dass Selenskyj wirklich einen Waffenstillstand will.
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