Schulen in Berlin: Die tägliche Überforderung

Auch zum neuen Schuljahr haben Berliner Schulen zu wenig Kapazitäten für zu viele Schüler

36 800 Erstklässler gibt es zu Beginn des neuen Schuljahres – so viele wie seit 25 Jahren nicht mehr.
36 800 Erstklässler gibt es zu Beginn des neuen Schuljahres – so viele wie seit 25 Jahren nicht mehr.

Endlich mal gute Nachrichten: Pünktlich zum Schulstart in der Hauptstadt wird bekannt, dass Berlin sich in einem Bildungsranking verbessern kann. Vom zwölften auf den elften Platz hat sich Berlin im Bildungsmonitor der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) hochgearbeitet. Also endlich ein Grund zu feiern in der Hauptstadt, der notorisch der Ruf anhängt, ihre Schüler schlecht auszubilden?

Wohl kaum. Tatsächlich nimmt der Bildungsmonitor des INSM eine ganze Reihe von Indikatoren unter die Lupe, von denen ein Teil wenig bis gar nichts mit den Schulen zu tun hat. Ein Blick in die detailliert aufgeschlüsselten Ergebnisse zeigt dann auch, dass Berlin im Ranking vor allem von seinen Hochschulen rausgeboxt wird. Die gehören bekanntermaßen bundesweit zur Spitze, doch für die Berliner Schulen gilt das offenbar weiterhin nicht: Bei den Leistungen der Schüler rangiert Berlin weiter auf dem vorletzten Platz, die Schulabbrecherquote liegt deutlich über dem Bundesschnitt. Noch immer, so die Bildungsforscher, seien migrantische Kinder im Berliner Schulsystem im Vergleich zu anderen Bundesländern übermäßig stark benachteiligt.

»Die Berliner Schulen sind nicht gut für das neue Schuljahr aufgestellt«, sagt Orcun Ilter. Er ist Vorsitzender des Landesschülerausschusses. Viele Klassen seien überfüllt, an einer Schule müssten sich sogar 37 Schüler in einen Klassenraum quetschen.

Tatsächlich erreicht die Zahl der Schüler in Berlin mit dem neuen Schuljahr erneut einen Rekordwert: Rund 408 000 Schüler besuchen nun Berliner Bildungseinrichtungen – etwa 4000 mehr als im Vorjahr. Darunter befinden sich allein 36 800 Erstklässler, auch das ein Rekordwert. Zuletzt wurden derartige Werte vor mehr als 25 Jahren verzeichnet.

Damit setzt sich ein Trend fort, der das Berliner Schulsystem seit etwa einem Jahrzehnt belastet: Die Zahl der Schüler wächst konstant, ohne dass die Kapazitäten entsprechend mitwachsen. Gründe dafür sind der starke Zuzug in die Hauptstadt seit den Zehnerjahren sowie die Fluchtmigration aus Syrien und der Ukraine. Immerhin ist Linderung inzwischen in Aussicht: Der allmähliche Rückgang der Geburten, der sich an den Kitas bereits bemerkbar macht, wird wohl spätestens zu Beginn der 30er Jahre auch an Schulen zu spüren sein.

Bis dahin bleiben die Verhältnisse beengt. 25 000 Schulplätze fehlen berlinweit laut Senatsangaben. Die Folge: Andere Schulen müssen die überschüssigen Schüler aufnehmen. An manchen Schulen werden dafür als »modulare Ergänzungsbauten« euphemistisch umschriebene Container aufgestellt, an anderen werden schlicht mehr Bänke und Stühle in die Klassenräume gestellt.

Milliardenbeiträge sind daher in den vergangenen Jahren in den Schulneubau gewandert. 2017 rief der damalige rot-rot-grüne Senat eine »Schulbauoffensive« aus. Um die Planungszeiten zu verkürzen, wurden sogenannte Typenbauweisen eingeführt – es werden also mehrere Schulen an verschiedenen Standorten nach der gleichen Planvorlage errichtet. Wegen der kräftig gestiegenen Baukosten im Zuge der Coronakrise verzögerten sich die Projekte trotzdem immer wieder, viele der in der rot-grün-roten Regierungszeit begonnenen Projekte werden erst jetzt fertig. Zum neuen Schuljahr waren es 8550 zusätzliche Schulplätze, wobei hierbei auch Erweiterungen bestehender Schulgebäude einberechnet werden.

Doch auch abseits der Gebäudefrage stellt die gestiegene Schülerzahl die Berliner Bildungspolitik vor Herausforderungen. Denn die zahlreichen neuen Schüler müssen auch unterrichtet werden – doch an Lehrkräften mangelt es Berlin schon seit Jahren. 650 Lehrerstellen konnten bis zum Schuljahresbeginn nicht besetzt werden, erklärte Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) am vergangenen Freitag auf einer Pressekonferenz, bei berlinweit etwa 36 000 Lehrkräften.

»Die Lücke ist real viel größer«, sagt Gökhan Akgün, Landesvorsitzender der Bildungsgewerkschaft GEW. »Die Bildungsverwaltung verschleiert die Bedarfe.« Die GEW vermutet Zahlentrickserei. In den vergangenen Jahren hatten die jeweiligen Bildungssenatorinnen von einem Lehrkräftedefizit um 1500 Vollzeitäquivalenten gesprochen – bis Günther-Wünsch diese Zahl auf einmal in den Mitteilungen der Senatsverwaltung auf ein Drittel reduzierte.

Der Grund dafür ist keine plötzliche Einstellungswelle. Vielmehr ließ Günther-Wünsch die Arbeitszeit der Lehrkräfte umschichten. Stunden, die bislang für den Profilbereich II eingeplant waren, werden nun in der Kernunterrichtszeit eingesetzt. Der Profilbereich II umfasst profilbildende Angebote der Schulen, aber auch Sprachförderung. Darüber hinaus wurde die Lehrverpflichtung für Referendare erhöht. Zudem können Schulen nun drei Prozent der für Lehrkräfte angedachten Stellen mit anderen Berufsgruppen wie Erziehern oder Sozialarbeitern besetzen.

»Nach unseren Berechnungen fehlen weiter 1500 Stellen«, sagt Akgün. Denn der Bedarf an Profilstunden bestehe weiter. Man befürworte zwar, dass auch Menschen an Schulen angestellt würden, die keine Lehrkräfte seien – doch nicht, um das Lehrkräftedefizit kleinzurechnen. »Die müssen on top kommen«, sagt Akgün. Entlastung spüren die Lehrkräfte nicht – im Gegenteil. »Auch wenn die Leute nicht da sind, muss die Arbeit ja trotzdem gemacht werden«, sagt Akgün. Für die verbleibenden Lehrkräfte bedeute das, dass sich die Arbeit verdichte und ausweite. Erst vor Kurzem habe eine Studie der Universität Göttingen gezeigt, dass Lehrkräfte in Berlin jährlich zwei Millionen unbezahlte Überstunden ableisteten.

Hinzu komme, dass nur eine Minderheit der neu eingestellten Lehrkräfte ausgebildete Lehrer seien. Gerade mal 16 Prozent der neuen Lehrer sind den klassischen Ausbildungsweg über das zweite Staatsexamen gegangen. Und der Rest? Quereinsteiger, die ein Aufbaustudium zur Lehramtsbefähigung absolviert haben, Seiteneinsteiger, die ohne pädagogische Fortbildungen an den Schulen tätig werden, und Studierende, die neben ihrem Studium an den Schulen jobben. Besonders am Stadtrand und in Brennpunktkiezen ist die Quote an voll Ausgebildeten besonders gering, wie eine Anfrage des BSW-Abgeordneten Alexander King zeigte, über die die »Berliner Morgenpost« in dieser Woche berichtete.

»Wir begrüßen jede Einstellung«, sagt Akgün. »Doch gerade erfahren die Quer- und Seiteneinsteiger viel zu wenig Unterstützung.« Man beobachte, dass Seiteneinsteiger und selbst Studierende von Anfang an mit Aufgaben wie der Übernahme des Postens des Klassenlehrers betraut werden. Häufig sei das eine Überforderung, so Akgün. »Eigentlich müsste man Angebote für die Nachqualifizierung machen.«

Dass sich das Verhältnis bald ändert, ist unwahrscheinlich: Die Berliner Universitäten kommen kaum hinterher, genügend Studierende in Lehramtsstudiengängen zum Abschluss zu bringen. Zwar ist die Zahl der Absolventen über die Jahre konstant gestiegen, doch von dem Bedarf, der je nach Berechnung zwischen 2500 und 3000 Absolventen im Jahr liegt, ist man noch immer weit entfernt.

408 000 Schüler besuchen nun Berliner Schulen – etwa 4000 mehr als im Vorjahr.

-

Angesichts der anhaltenden Berliner Haushaltskrise wurde zuletzt sogar die Zielzahl gesenkt. Statt 2500 Absolventen sollen künftig nur noch 2200 Lehramtssstudierende im Jahr die Unis verlassen – ein Zugeständnis des Senats an die Hochschulen, deren Zuschüsse kräftig gekürzt werden.

»Das zarte Pflänzchen des Aufwuchses bei den Lehramtsstudierenden darf nicht zertreten werden«, warnt Akgün. Man müsse auch weiterhin so viele Lehrkräfte wie möglich ausbilden – und die Universitäten dafür finanziell entsprechend ausstatten.

Wie sich der Lehrkräftemangel im schulischen Alltag auswirkt, bekommt Schülervertreter Orcun Ilter jeden Tag zu spüren. »An meiner Schule liegt die Ausstattung bei etwa 90 Prozent«, sagt er. »Damit stehen wir noch ziemlich gut da.« In Extremfällen seien an manchen Schulen gerade mal 70 Prozent der Stellen besetzt. Für die Schüler bedeute dies, dass massenhaft Unterricht ohne Vertretung ausfalle. Besonders schwierig sei das bei Abiturjahrgängen.

Parallel fielen immer mehr Angebote außerhalb der eigentlichen Unterrichtszeit weg: Im Zuge der Haushaltskrise werden auch die Mittel für die schulische Bildungsarbeit freier Träger zusammengestrichen. Allein der Bereich queere Bildung wird vollständig aus dem Etat geschnitten.

»Wir sehen einen Kahlschlag bei der politischen Bildung«, sagt Ilter. »Dabei wollen wir doch eigentlich, dass sich junge Menschen politisch engagieren.« Er glaubt, dass sich auf diesem Weg Probleme mit Rechtsextremismus verschärfen könnten. »Bei den Schülern hinterlässt das den Eindruck, dass die Politik sich nicht interessiert«, sagt er. Dabei gehe es bei den Angeboten um »Leidenschaften« vieler Schüler.

Für GEW-Chef Gökhan Akgün steckt hinter den Kürzungen auch politisches Kalkül. »Die Kürzungen sind ideologisch motiviert«, glaubt er. Das CDU-geführte Ressort streiche Projekte, die Vielfalt und Integration stärken sollen. »Das trifft am Ende die, die Unterstützung am nötigsten haben«, sagt er. Parallel verspreche die Bildungssenatorin Privatschulen 25 Millionen Euro zusätzlicher Landesmittel.

Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.

Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen

Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -