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Berlin: Der Weg aus der Behindertenwerkstatt
Grüne wollen Inklusion in der beruflichen Ausbildung stärken
»Herr Ubrig hat Schwierigkeiten, er muss in die Werkstatt« – das war der erste Satz, den Sascha Ubrig hörte, als er nach dem Abschluss der 10. Klasse an einem Förderzentrum zu einem Termin im Arbeitsamt erschien. »Zum Glück hat das danach niemand vorangetrieben«, sagt er heute. »So konnte ich das selbst in die Hand nehmen.« Ubrig hat Hörprobleme und eine Lernstörung, er gilt als schwerbehindert.
Zunächst beginnt er eine Ausbildung zum Maler und Lackierer. Doch nach einiger Zeit nimmt ihn eine Sachbearbeiterin zur Seite und erklärt ihm, dass man mit seiner Arbeitsprüfung unzufrieden sei. »Es hat vorher nie ein Gespräch darüber gegeben, was ich falsch gemacht habe oder was ich hätte besser machen können«, erinnert Ubrig sich. Er wechselt an ein Berufsbildungswerk, den praktischen Teil der Ausbildung besteht er. Doch an der Berufsschule hat er Probleme. »Die Lehrer sind nicht darauf eingegangen, wenn ich Nachfragen hatte«, sagt er. »Ich wurde ausgegrenzt.« Er habe sich immer mehr aus dem Unterricht zurückgezogen, am Ende fällt er beim theoretischen Prüfungsteil durch.
Nach Stationen bei verschiedenen Zeitarbeitsfirmen ist Ubrig heute hauptamtlicher Interessenvertreter bei der Berliner Lebenshilfe. »Ich bin stolz, dass ich es geschafft habe«, sagt er. Er glaubt aber auch: »Wenn ich bessere Unterstützung bekommen hätte, hätte ich es auch anders schaffen können.«
Ubrig sitzt am Montagvormittag bei einer Pressekonferenz der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Dort will man sich der Ausbildungssituation von behinderten Menschen verstärkt annehmen. »Es geht um echte Wahlmöglichkeiten«, sagt Catrin Wahlen, inklusionspolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Behinderten müsse ein gleichberechtigter Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt werden. Bislang könne davon kaum die Rede sei: Obwohl 70 Prozent der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Regelschule besuchten, sei der Weg zu einer Behindertenwerkstatt im Anschluss oft vorgezeichnet. Dort können die Beschäftigten im Regelfall keinen anerkannten Berufsabschlus erwerben.
Für die Grünen ist ein Schlüssel die Vermittlung in den Arbeitsämtern. »Wir sehen noch Verbesserungspotenzial, was die Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen angeht«, sagt Tonka Wojahn, Sprecherin ihrer Fraktion für Aus- und Weiterbildung. Die Jugendberufsagenturen der Bundesagentur für Arbeit müssten inklusiver werden.
Viel ändern muss sich nach den Plänen der Grünen an den Berufsschulen. »Es mangelt an Barrierefreiheit«, sagt Catrin Wahlen. »In den Gebäuden, aber auch im Unterricht.« Inklusion müsse bei der Ausbildung von Berufsschullehrern eine größere Rolle spielen. Im Unterricht müsse eine Gebärdenübersetzung angeboten werden.
Ein anderes Instrument existiert bereits. Mit den »Budgets zur Ausbildung« kann die Arbeitsagentur die Ausbildungskosten des Arbeitgebers übernehmen, wenn er behinderte Menschen zu einem Berufsabschluss führen will. »Das Budget ist ein kräftiges Werkzeug, um die Exklusionskette zu durchschneiden«, sagt Wahlen. »Aber in der Realität wird es kaum wirksam.« Gerade mal neun solcher Budgets werden zurzeit in Berlin ausgezahlt, auch bundesweit ist es gerade einmal eine zweistellige Zahl.
»Viele Betriebe kennen das Instrument nicht oder fürchten bürokratischen Aufwand«, sagt Wahlen. Nach ihrem Willen sollten behinderte Schulabgänger einen Rechtsanspruch auf dieses Budget haben. Zudem solle es nicht nur für Berufsausbildungen, sondern auch für Fortbildungen und berufsvorbereitende Maßnahmen genutzt werden können.
Karl Häring sieht noch einen weiteren Schalthebel. Er leitet das Unternehmen Lidis, das sich als inklusiver Ausbildungsbetrieb sieht. 50 Mitarbeiter hat der Betrieb, der Dienstleistungen im Bereich Gebäudemanagement anbietet, darunter 22 Auszubildende. Etwa die Hälfte von ihnen lebt mit einer Beeinträchtigung.
Häring glaubt, dass eine Fachpraktiker-Ausbildung viele junge Menschen mit Behinderung in eine reguläre Beschäftigung führen könnte. Bei dieser auch »theoriereduzierte Ausbildung« genannten Qualifikation wird der an der Berufsschule zu absolvierende theoretische Teil reduziert, während praktische Anteile mehr Gewicht erhalten. »Hauptsache, er streicht die Wände ordentlich« sei sein Credo, sagt Häring. Auch Unternehmen auf der Suche nach Fachkräften könnten davon profitieren.
Doch bislang gibt es diese Fachpraktiker-Ausbildung nur in wenigen Bereichen. Die Grünen wünschen sich, dass sie auf mehr Berufsfelder ausgedehnt wird. »Am besten dort, wo die Nachfrage hoch ist«, sagt Klara Schedlich, Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus für berufliche Bildung. Karl Häring hat schon einen konkreten Bereich im Kopf: In der Gebäudereinigung würde sich eine Fachpraktiker-Ausbildung anbieten. »Eigentlich ist es ja so schon schwierig genug, jemanden zu finden, der Gebäudereinigung machen möchte«, sagt er.
»Viele Betriebe fürchten bürokratischen Aufwand.«
Catrin Wahlen (Grüne)
Inklusionspolitische Sprecherin
»Man hat nicht die Hürde, dass man von Anfang an gleich alles können muss«, sagt Häring zu den Vorzügen der theoriereduzierten Ausbildung. Bei Bedarf könne eine Regelausbildung noch nachgeholt werden. Größere Qualitätsverluste fürchtet er nicht. »Die Qualität der Leute ist immer noch gut«, sagt er. Sicherheitsrelevante Aspekte würden auch in der theoriereduzierten Ausbildung vermittelt.
Bei der Industrie- und Handelskammer, deren Mitglied Härings Unternehmen ist, beobachte er inzwischen eine größere Offenheit für das Thema. Vor allem bei der von der IHK abgenommenen Abschlussprüfung gebe es aber noch Verbesserungsbedarf. Die Prüfungen seien für viele behinderte Azubis noch eine große Hürde. So könne die Prüfung zurzeit etwa nicht in Einfacher Sprache abgelegt werden.
»Die IHK unterstützt das Modell der Fachpraktikerausbildung«, erklärt eine Sprecherin auf Anfrage. »Eine Ausweitung auf weitere Berufsfelder ist grundsätzlich denkbar, muss jedoch sorgfältig geprüft werden.« Es müsse sichergestellt werden, dass die Absolventen am Ende auch reale Beschäftigungschancen hätten.
Die IHK setze Nachteilsausgleiche um, um Azubis mit Behinderungen die Teilnahme an den Abschlussprüfungen zu ermöglichen. »Eine separate Prüfung in ›einfacher Sprache‹ ist derzeit allerdings nicht möglich, da die Prüfungen bundeseinheitlich gestaltet und inhaltlich identisch sein müssen, um die Vergleichbarkeit der Berufsabschlüsse zu gewährleisten«, heißt es weiter. Man setze sich aber auf der Bundesebene dafür ein, verständlichere Formulierungen und barriereärmere Prüfungsformate zu berücksichtigen.
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