Abschottung: Auf dem Rücken der Schwächsten

SOS Humanity und die SOS-Kinderdörfer weltweit fordern, Minderjährige auf der Flucht besser zu schützen

An Bord der »Humanity 1«. 2026 soll die »Humanity 2« an den Start gehen.
An Bord der »Humanity 1«. 2026 soll die »Humanity 2« an den Start gehen.

Zweimal wurde Samy* in Libyen verkauft. »Ich wurde ausgehungert, ich bekam Elektroschocks und wurde geschlagen«, berichtet er der Seenotrettungsorganisation SOS Humanity nach seiner Rettung auf dem Mittelmeer. »Sie rufen deine Familie an, um Lösegeld zu verlangen.«

Keitas Gruppe ging nach einem mehrtägigen Marsch durch die Wüste die Vorräte aus. »Mein Bruder fiel erschöpft zu Boden, unfähig weiterzulaufen. Er verdurstete.«

Als Thibaut aus Guinea zum dritten Mal in ein Boot steigt, fällt zuerst der Kompass aus und schließlich der Motor. »Also sprang ich ins Wasser, um das Boot zu schieben«, erinnert er sich. »Ich sah Babys weinen und Frauen Meerwasser trinken.«

Was Samy, Keita und Thibaut nach ihrer Rettung schildern, lässt nur erahnen, mit welchem Leid eine Flucht verbunden sein kann. Vor allem, wenn es sich wie in ihrem Fall bei den Schutzsuchenden um Minderjährige handelt, die sich ohne erwachsene Begleitung auf den Weg von Westafrika über Libyen und das Mittelmeer nach Italien machen.

»Mein Bruder fiel erschöpft zu Boden, unfähig weiterzulaufen. Er verdurstete.«

Keita* Geflüchteter aus Guinea

Ungehört bleiben werden jene, die ihre Geschichte nie teilen können. Die Seeroute über das Mittelmeer zählt zu den gefährlichsten Fluchtrouten der Welt. In den vergangenen zehn Jahren sind mehr als 21 000 Menschen allein im zentralen Mittelmeer gestorben. Laut Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, waren rund 3500 davon Kinder. Durchschnittlich fast jeden Tag stirbt damit ein Kind im Mittelmeer. Und das sind nur die Fälle, die bekannt geworden sind.

Am Dienstag schlugen die beiden Hilfsorganisationen SOS Humanity und SOS Kinderdörfer weltweit Alarm, denn die Abschottungspolitik des Westens treffe Kinder und Jugendliche besonders hart.

Im Durchschnitt waren 13 Prozent der Menschen, die im vergangenen Jahrzehnt über das zentrale Mittelmeer nach Italien kamen, unbegleitete Minderjährige, so SOS Humanity. Zahlen des italienischen Innenministeriums zufolge liegt der Anteil im aktuellen Jahr sogar bei 18 Prozent. Von den zwischen 2016 und 2025 von SOS Humanity in Not geretteten 39 000 Menschen waren nach Angaben der Organisation sogar 7700 unbegleitete Minderjährige, also knapp 20 Prozent.

Statt Rettungskapazitäten im Mittelmeer bereitzustellen, würde die EU Milizen in Libyen zu unrechtmäßigen Rückführungen befähigen, beklagt Till Rummenhohl, Geschäftsführer von SOS Humanity, während einer Pressekonferenz. Außerdem würden Schutzsuchende dort gefoltert, zur Arbeit gezwungen oder versklavt – auch das sei ein Ergebnis der europäischen Außenpolitik.

Zwar habe diese dazu geführt, dass sich die Gesamtzahl der Abfahrten aus Libyen reduzierte, doch sicherer sei die Seeroute nicht geworden. Die Gefahr, sein Leben zu verlieren, wenn man in ein Boot steigt, habe sogar zugenommen, so Rummenhohl. UN-Zahlen belegen das: Während sich die Zahl der Ankünfte in Italien von 2023 auf 2024 mehr als halbierte, sind die der offiziell gezählten Toten und Vermissten fast gleich geblieben. Im bisherigen Jahr ist diese Todesrate im Vergleich zu 2024 wieder ein wenig gesunken.

Dennoch würden die über 100 Millionen Euro im Rahmen des nun eingefädelten Deals zwischen EU und Tunesien nicht in den Schutz von Menschen fließen, sondern in Grenzmanagement und gewaltsame Rückführungen, kritisierte der Geschäftsführer von SOS Humanity. Im September kündigte die Seenotrettungsorganisation daher an, mit dem Rettungs- und Beobachtungsschiff »Humanity 2« ab Mitte 2026 vor allem vor Tunesien Leben zu retten und Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Gleichzeitig forderte Rummenhohl von der EU eine Kehrtwende in der Aslypolitk und »ein klares Ende der Zusammenarbeit mit Milizen«.

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Doch eine Flucht über das Mittelmeer beginnt nicht in Libyen oder Tunesien. Auch in Transitländern sind Minderjährige bedroht, sei es durch Inhaftierung, Zwangsarbeit oder Missbrauch, sagt Lana Idriss, Vorständin von SOS Kinderdörfer weltweit. Deshalb haben sich SOS Humanity und SOS Kinderdörfer weltweit im vergangenen Jahr zusammengetan, um flüchtende Menschen auf Land und Meer zu schützen.

Idriss beobachtet, dass seit einiger Zeit mehr Kinder aus westafrikanischen Ländern flüchten. Das führt sie teilweise auf die Auflösung der US-Entwicklungsbehörde USAID zurück: »Wenn humanitäre Hilfe gestrichen wird, begeben wir uns in einen Teufelskreis, der dazu führt, dass mehr Kinder auf diese Routen gehen werden.« Auch deshalb sei es dringend notwendig, »dass Kindesschutz voll im Asylrecht ausgerollt wird«, fordert Idriss.

Zuversichtlich ist sie angesichts der geplanten Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems (Geas) nicht. Zwar seien die konkreten Veränderungen für Jugendliche und Kinder noch nicht genau absehbar, doch ihr Mitstreiter Rummenhohl betont, dass bereits jetzt klar ist, dass mit der Geas-Reform »in Einzelfällen ermöglicht werden soll, Kinder und Jugendliche an den Grenzen zu inhaftieren«. Das zeige, dass nicht im Sinne des Kinderschutzes, sondern im Sinne der Abschottung gehandelt wird.

* Namen zum Schutz der Minderjährigen geändert

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