Das Schweigen brechen

Experten diskutieren über den Zustand der ungarischen Demokratie und den Antiziganismus im Land

Die rechtsradikale Jobbik-Partei punktet mit Hasskampagnen gegen Roma. Ministerpräsident Viktor Orbán treibt mit nationalistischen Parolen die Rechte vor sich her. Woher kommt die Wut?

Keines ihrer Mitgliedsländer bereitet der europäischen Staatengemeinschaft wohl gerade so viel Kopfzerbrechen wie das 2004 beigetretene Ungarn - die von der Krise gebeutelten Staaten einmal ausgenommen. Mit einem höchst umstrittenen Mediengesetz, Brandanschlägen rechtsradikaler Milizen in von Roma bewohnten Dörfern und einem auf nationalistische Beschwörungsformeln getrimmten Ministerpräsidenten katapultierte sich das Land zunehmend in die Isolation. Nahezu monatlich hagelt es Rüffel aus Brüssel, meist wegen Verstößen gegen demokratische Grundsätze. Und die Animosität beruht auf Gegenseitigkeit. Für Ministerpräsident Viktor Orbán ist die EU schon ähnlich verhasst wie die Sowjetunion, bezeichnete er sie doch kürzlich erst als »neues Moskau«.

Das Land steuert unter der Fidesz-Regierung in eine besorgniserregende Zukunft, das verrät der Tenor der ungarischen Wissenschaftler, die vergangene Woche an der Tagung »Antisemitismus, Romafeindlichkeit und Demokratie« an der Technischen Universität in Berlin teilnahmen. Das heutige Ungarn, ein nationalistischer Cocktail aus verpasster Vergangenheitsbewältigung - es fehlt an der kritischen linken und vor allem jungen Gegenöffentlichkeit, wie die Philosophin Ágnes Heller einwarf - und der Abneigung gegenüber alten Eliten aus der kommunistischen Ära, erklärte der Journalist Keno Verseck. Das heutige Selbstverständnis des Landes spiegelt sich eindrücklich am Konzept der Gedenkstätte »Haus des Terrors« in Budapest wider. 2002 von der ersten Fidesz-Regierung unter Orbán eingeweiht, werden hier faschistische Pfeilkreuzler und Kommunisten zu zwei Schrecken derselben Medaille. Immer schwingt der verletzte Stolz Ungarns mit, stets zwischen dem Willen anderer Interessen zerrieben worden zu sein. Erst waren es die Osmanen, dann die Trianon-Verträge - ein »nationales Trauma« -, die Ungarn zwei Drittel seines Staatsgebietes kosteten, schließlich die Sowjetunion und irgendwie auch Europa.

Die Jobbik-Partei, die bei 17 Prozent der Wählerstimmen liegt, profitiert davon. Sie ist trotz ihrer sozialdarwinistischen Parolen kein Sammelbecken für selbst ernannte Benachteiligte, erklärte Verseck in seinem Vortrag. Ein nicht kleiner Teil ihres Umfeldes speist sich aus universitären Kreisen, dort war sie auch entstanden. Die Partei ist vielmehr ein eindrücklicher Auswuchs des Wegsehens und des fehlenden politischen Gestaltungswillens, auch unter der sozialliberalen Koalition. Diese hatte, entgegen ihrer Versprechen, nicht durchgesetzt, die Roma-Siedlungen aufzulösen.

Heute zeigen Lokalpolitik und Budapest gerne mit dem Finger aufeinander, wenn es um Zuständigkeiten geht. Die Polizei steht bei Einsätzen nicht selten tatenlos daneben, während rechte Milizen die Bewohner der Roma-Dörfer - im harmlosesten Fall - provozieren. Von polizeilichen Ermittlungspannen im Falle einer Mordserie an Roma, ähnlich dem deutschen NSU-Skandal, erzählt die Journalistin Szilvia Varró, Pulitzerpreisträgerin für investigativen Journalismus. Und Jobbik rüstet ungehindert weiter auf. Nahezu täglich schickt sie Parteimitglieder in die ungarische Provinz, um in sogenannten »Einwohnerforen« ihre Thesen von der »Zigeunerkriminalität« zu verbreiten. Und während die rechte Presse Öl ins Feuer gießt, hüllt sich die Linke in »peinliches Schweigen«, wie Varró resümiert. »Mit unserem Nichtstun haben wir dazu beigetragen, dass sich die ungarischen Roma kollektiv verurteilt fühlen«.

Welche Chancen die Opposition um die Vereinigung für die Pressefreiheit »Milla« hat, zumindest einen politischen Wandel im Wahljahr 2014 zu organisieren, war bei der düsteren Momentaufnahme leider ganz an den Rand geraten.

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