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Unwürdiges Wohnen fordert Menschenleben

Frankreich: Skrupellose Vermieter nutzen Lücken im Gesetz - auf Kosten der Gesundheit der Bewohner

  • Andrea Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
In Frankreich werden viele Bruchbuden teuer vermietet - die Wohnungsnot macht es den Vermietern leicht.

Die Geschichte ist banal: Im Dezember 2011 erstattet Héléna Fokuo Anzeige gegen den Besitzer ihrer Wohnung. Es handelt sich um eine »Zivile Immobiliengesellschaft«, die weiter Miete eintreibt, obwohl die heruntergekommene Behausung im Stadtzentrum von Saint-Denis von den Behörden mehrfach als gefährlich eingestuft wurde, was die Bewohner gesetzlich eigentlich von der Mietzahlung entbindet. Sie leben seit Jahren unter menschenunwürdigen Bedingungen, ohne fließendes Wasser und mit selbstgebastelter Stromversorgung.

Der katastrophale Zustand des Hauses ist bekannt, doch den Behörden sind die Hände gebunden. Seit 2008 haben die Stadtverwaltung und der Präfekt die verschiedenen Besitzer mehrfach vergeblich aufgefordert, notwendige Reparaturen vorzunehmen. Theoretisch war es gar verboten, weiter in dem Haus zu wohnen - eine rein rhetorische Verfügung in einem Land, in dem eine Million Wohnungen fehlen. Mitte September sollte der Verwalter der Immobiliengesellschaft von der Polizei vernommen werden. Leider zu spät: Drei Tage zuvor brach ein Feuer aus. Héléna Fokuo und ihr Freund starben in den Flammen. Ein weiterer Mann erlag später seinen Verletzungen. Neun Menschen wurden schwer verletzt, darunter ein Feuerwehrmann.

Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen eine Untersuchung wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung eingeleitet. Der Untersuchungsrichter muss nun entscheiden, ob die gefährlichen Wohnbedingungen und die Nichteinhaltung der Sicherheitsbestimmungen beim Ausbruch und der raschen Ausbreitung des Feuers eine Rolle gespielt haben.

Zwei zivile Immobiliengesellschaften besaßen 60 Prozent aller Wohnungen. Sie hätten das Wohnhaus bewusst verkommen lassen, heißt es von Seiten der Stadt. Der sinkende Wert der Wohnungen soll es ihnen über Jahre ermöglicht haben, immer mehr davon zu Spottpreisen aufzukaufen und dann zu horrenden Preisen zu vermieten - insbesondere an junge Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung.

Im vergangenen Sommer ließ die Stadt Saint-Denis auf eigene Kosten einige der notwendigsten Reparaturen durchführen. So wurden die zum Teil selbstgebastelten Stromvernetzungen ersetzt, die Schornsteine gereinigt und Böden abgesichert, die einzustürzen drohten. Ohne diese Notreparaturen wäre die Todesbilanz bei dem Brand wahrscheinlich noch höher ausgefallen.

Die Eigentümer zahlten für die Reparaturen keinen Cent. »Das sind Leute mit einem ausgeprägten juristischen Fachwissen. Sie wissen ganz genau, wie weit sie die Rechtslage ausnutzen können, und dabei ungestraft davon kommen«, erklärt Stéphane Peu, stellvertretender Bürgermeister von Saint-Denis. Der »Verwalter« - zutreffender der Eigentümer - einer der beiden Immobiliengesellschaften unterrichtet Wirtschaftsrecht an der renommierten Universität Paris-Dauphine, einer Hochburg der neoliberale Wirtschaftstheorie.

Unfälle dieser Art können sich jederzeit wiederholen. Allein in Saint-Denis sind 5000 Wohnungen ähnlich baufällig. Im Stadtzentrum werden gar 40 Prozent aller Privatwohnungen als potenziell gefährlich eingeschätzt. »Uns sind die Hände gebunden. Skrupellose Besitzer werden rechtlich zu lange geschützt«, bedauert Peu. »Die Gesetze müssen geändert werden, damit Behörden und Stadtverwaltung schneller handeln können.« Saint-Denis hat entschieden, selbst Anzeige gegen die Mitbesitzer des Hauses zu erstatten und als Nebenkläger aufzutreten.

In Saint-Denis sind in den letzten zehn Jahren 30 Menschen bei Bränden von baufälligen Wohngebäuden umgekommen. 2005 starben in Paris 49 Menschen, darunter 29 Kinder, bei einer Serie von Bränden in drei heruntergekommenen Gebäuden. Die Familien der Opfer warten noch immer auf einen Prozess.

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