Vom Rollstuhl-Polo zu den Paralympics

Der emigrierte jüdische Arzt Ludwig Guttmann wird heute in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Ludwig Guttmann gilt als Erfinder der Paralympischen Spiele. Seine Tochter freut sich, dass ihr 1980 verstorbener Vater nun in Deutschland geehrt wird.

Als die Nazis 1938 ihre »Reichskristallnacht« lostraten und sich viele Deutsche in ihren Wohnungen verschanzten, da öffnete Ludwig Guttmann seine Türen. Der Neurologe wies im Jüdischen Krankenhaus von Breslau seine Mitarbeiter an, niemanden wegzuschicken. Er führte die Gestapo von Zimmer zu Zimmer, für jeden Patienten hatte er eine Krankengeschichte parat, so rettete er vermutlich 60 Juden das Leben. Guttmann war von den Nazis als »Krankenbehandler« verunglimpft worden, dabei bedeutete ihm die Medizin alles.

»Mein Vater hat nie über den Krieg gesprochen«, sagt Eva Löffler am Telefon in Suffolk, an der Ostküste Großbritanniens. »Die Nazis haben viele unserer Familienmitglieder und Freunde umgebracht. Und trotzdem sagte mein Vater, dass nicht alle Deutschen schlechte Menschen seien.« Eva Löffler war sechs Jahre alt, als sie mit ihrer Familie 1939 nach England fliehen musste. An diesem Freitag nun wird Guttmann in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen. Die Zeremonie findet im Berliner Hotel Adlon statt - drei Gehminuten entfernt vom Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. »Mein Vater wäre unheimlich stolz«, sagt Eva Löffler. Sie wird mit ihrer Tochter an der Feier teilnehmen und auch das riesige Stelenfeld besuchen.

Ludwig Guttmann, geboren 1899 in Oberschlesien, Sohn eines jüdischen Gastwirts, erhielt von der britischen Regierung 1943 den Auftrag, die erste Spezialklinik für Wirbelsäulengeschädigte aufzubauen. In Stoke Mandeville traf er täglich auf Kriegsverletzte. Die britischen Soldaten hörten seinen deutschen Akzent. »Am Anfang bezeichneten sie ihn herablassend als Kraut«, erzählt Löffler. »Doch nach wenigen Wochen war er für alle nur noch Poppa, eine Vaterfigur.«

Die Autorin Susan Goodman beschreibt in ihrem Buch »Spirit of Stoke Mandeville« ein Schlüsselereignis für Guttmanns Berufswahl: Als Hilfspfleger in einem Krankenhaus hatte der Gymnasiast Guttmann 1918, im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges, Veteranen mit Rückenmarksverletzungen kennengelernt. Sie verharrten in ihren Betten, litten an Druckgeschwüren und Harninfekten. Sie wimmerten im Halbschlaf, rochen nach Urin. Achtzig Prozent von ihnen waren bald tot, die anderen wurden weggesperrt. Guttmann beschloss, Medizin zu studieren.

Ein Fernsehporträt der BBC zeigt in nachgestellten Szenen, wie Guttmann in Stoke Mandeville gegen Widerstände anging. Er analysierte neue Rehabilitationsideen aus den USA und Europa, und bestand darauf, dass Patienten alle zwei Stunden gewendet werden müssen, um Druckstellen zu vermeiden. Er warb für Bewegung statt Stillstand. Das Klima gegenüber den Todgeweihten wurde freundlicher. Sie trauten sich mehr zu, bald überlebten 80 Prozent der Patienten.

Im Herbst 1944 stieß Guttmann auf seinem Krankenhausgang auf Patienten, die in ihren Rollstühlen übers Parkett fegten und mit Spazierstöcken auf eine Schreibe schlugen. Guttmann spielte mit, so entstand ein neues Spiel: Rollstuhl-Polo. Wochen später trieben viele Patienten Sport: die Bewegung stärkte ihr Immunsystem, förderte ihr Selbstvertrauen. 1948 organisierte Guttmann neben dem Krankenhaus einen Wettkampf im Bogenschießen für 16 Kriegsversehrte. Die Spiele von Stoke Mandeville begannen am selben Tag wie die Olympischen Spiele in London. »Mein Vater hatte die Vision, Menschen mit Behinderung durch Sport zusammen zu bringen«, sagt Eva Löffler. Als junges Mädchen hatte sie bei der Organisation geholfen, sie bereitete die Bögen für den Wettbewerb vor, motivierte die Sportler: »Jeder sollte ein Recht auf Sport haben.«

Eine Revolution - und viele folgten ihr. 1960 fanden die ersten Weltspiele des Behindertensports in Rom statt, wo auch Olympia veranstaltet wurde. Ein Jahr später gründete Guttmann den Britischen Behindertensportverband. Bei den »Weltspielen der Gelähmten« 1972 in Heidelberg prangte auf den Bussen der US-Mannschaft die Wortkombination Paralyzed, gelähmt, und Olympics. 1984 wurden die Spiele dann Paralympics genannt. 2012 kehrten die Paralympics in ihr Geburtsland zurück, nach London. Eva Löffler war Bürgermeisterin des Paralympischen Dorfes. Sie war in Großbritannien Gründungsmitglied des Nationalen Paralympischen Komitees und Vorsitzende des Rollstuhl-Sportverbandes gewesen. 2012 hat sie Hunderte Gespräche über ihren Vater geführt: »Das hat ihn für mich ein bisschen lebendig gemacht.«

»Ludwig Guttmann ist eine Symbolfigur, die der Bevölkerung einen Zugang zu komplexen Themen ermöglicht«, sagt Rickie Burman. Die Entwicklungskoordinatorin der Londoner Nationalgalerie hat 17 Jahre lang das Jüdische Museum in der britischen Hauptstadt geleitet. Für 2012 hatte sie dort eine Sonderausstellung zu Guttmann auf den Weg gebracht. Es ging ihr auch um den gesellschaftlichen Einfluss: Guttmann hielt Vorträge in Universitäten, Schulen, Krankenhäusern. In Deutschland beriet er das Bundesarbeitsministerium und einige Berufsgenossenschaften. 1966 wurde er in England zum Ritter geschlagen, später wurden Straßen, Schulen und Sportstätten nach ihm benannt. Mit jeder Würdigung wurden seine Behandlungsmethoden bekannter. Er starb 1980 an Herzversagen.

Eva Löffler ist 81 Jahre alt, sie hat die Welt bereist, doch sie ist noch nicht fertig. Sie möchte die Sommer-Paralympics 2016 in Rio und 2020 in Tokio besuchen. Sie war erst einmal in Berlin. »Als Jude hatte mein Vater ein feines Gespür für andere Minderheiten, die auch benachteiligt wurden«, sagt sie. »Dass die Deutschen meinen Vater so warm aufnehmen, rührt unsere Familie sehr.«

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