Trauma im Mineirão

Das 1:7 gegen Deutschland wird ganz Brasilien noch eine Weile zu schaffen machen

Die unwirkliche Niederlage stürzt Brasiliens Fußballfans in Verzweiflung. Erst im Stadion, später auch auf den Straßen von Belo Horizonte, Rio und Sao Paulo.

Der Mann kam aus dem Nichts: »Komm her mein deutscher Freund, lass Dir gratulieren!«, sagte er nur und flugs hatte der bärtige brasilianischen Fußballfan den deutschen Zeitungsreporter geschnappt und umarmt. Zwei Fremde im fahlen Licht einer Bushaltestelle nahe Belo Horizontes Stadion Mineirão - was ein 1:7 doch mit den Menschen machen kann. Umstehende Fans lachten und zeigten die in Brasilien allgegenwärtige Geste des erhobenen Daumens, nur einer mit rotgeränderten Augen nicht: Er ging auf den Bartträger los, beschimpfte ihn als Verräter, es gab ein Gerangel, bis schließlich ein Dutzend Militärpolizisten anrückte, den Betrunkenen niederrang und davonzerrte.

Unter Schock tun Menschen die ungewöhnlichsten Dinge. Und mit dem 1:7 der »Seleção brasileira« im WM-Halbfinale hat Brasiliens Fußballbesessene ein Trauma ereilt, dessen Schockwirkung wohl noch schwerer zu ertragen ist als jene Niederlage im abschließenden Spiel der Fußball-WM 1950, die heute als »Maracanaço« in den Mythenschatz jedes Brasilianers gehört.

In dieser Nacht im Juli 2014 hatten sie im Stadion gesessen und geweint. Vier Tore in sieben schrecklichen und unfassbaren Minuten hatten alle Träume von der Hexa, dem sechsten Titelgewinn, in Luft aufgelöst. Die Statistiker haben längst nachgemessen: 400 Sekunden dauerte es vom 2:0 bis zum 4:0. Müller, Klose, Kroos, Khedira, Schürrle - die Namen der deutschen Torschützen werden sie wohl noch lange aufsagen können in Brasilien.

Und ein jeder wird sich erinnern können, wo er die Niederlage miterleben musste. Am FIFA-Fanfest in Rio an der Copacabana womöglich, wo es zu einer leichten Panik kam, als Betrunkene eine Schlägerei anzettelten. Oder am Spielort Belo Horizonte, der Stadt im Minais Gerais, in dem die Selecao unterging: Dort verbrannten Fans die dieser Tage allgegenwärtigen grün-gelben Flaggen mit dem Leitspruch »Ordem e progresso« (Ordnung und Fortschritt). Andere bewarfen Polizisten mit Steinen und Bierflaschen. Auch in Sao Paulo sollen sich ähnliche Szenen abgespielt haben, wie verschiedene Agenturen berichteten. Insgesamt aber verhielten sich die meisten Brasilianer so wie jene, die in Belo Horizonte vom Stadion nach Hause fuhren. Tränen wegwischen, aufstehen, weiter gehts.

Die 60 000 Menschen, die an diesem Abend das Halbfinale ins Mineirão-Stadion mitansehen mussten, hatten schließlich ihren Frieden mit der Niederlage gemacht, sie akzeptierten das Trauma vom 8. Juli 2014 als eine neue brasilianische Realität. Irgendwann hatten sie genug geweint, gejammert und geklagt: Sie erhoben sich und applaudierten der deutschen Mannschaft, als Schürrle das siebente Tor geschossen hatte - manche vielleicht hämisch, die meisten aber in Anerkennung. Sie ahnten wohl, dass diese anfangs unerbittlich effektive deutsche Mannschaft schon längst nicht mehr volle Kraft fuhr gegen die verängstigten Brasilianer, die eine qualvolle Stunde lang versuchten, irgendwie noch das Gesicht zu wahren bei der höchsten brasilianischen Niederlage aller Zeiten, der höchste WM-Sieg in der KO-Runde seit 1938, etc. etc.

Als das Spiel vorbei war, brachen die Spieler in Tränen aus. Kapitän Thiago Silva tröstete den schluchzenden Mittelfeldmann Oscar, Verteidiger David Luiz kniete zum Gebiet nieder und weinte gen Himmel. Zwei Stunden vorher hatte er noch inbrünstig mit dem ganzen Stadion die Hymne gesungen und das Trikot des verletzten Neymar in die Kameras gehalten. Sein Kampfgeist und der seiner Kollegen reichten nur für wenige Minuten. Auch Brasiliens Trainer Luiz Felipe Scolari verließ das Stadion als gebrochener Mann: »Ich werde als der Trainer in Erinnerung bleiben, der 1:7 verloren hat«, resümierte Scolari. »Wir bitten um Vergebung bei der Bevölkerung, bitte entschuldigt diesen Fehler.«

Die komplett rechtsgerichtete Presse Brasiliens schwenkte sofort wieder von WM-Euphorie um auf die alte Marschroute, die Copa als Beweis für mangelnde Kompetenz der Regierung anzuführen. »Die historische Schande am Dienstag schaltete ein Warnsignal bei der Regierung von Dilma Rousseff ein, die befürchtet, dass die schlechte Stimmung die ohnehin schon nicht guten wirtschaftlichen Perspektiven eintrübt und Auswirkungen auf den Wahlkampf hat«, umschrieb es die »Folha de São Paulo« in ihrer Onlineausgabe recht vertrackt. Die Regierung dementierte umgehend, dass ihr die Niederlage Kopfzerbrechen bereite. Noch bleibe viel Zeit bis zu den Wahlen am 5. Oktober.

Als es ein besonders neugieriger Fernsehreporter in Belo Horizonte am Straßenrand brasilianische Fans nach den politischen Auswirkungen dieser Niederlage befragen wollte, erntete er nur Kopfschütteln: »Wahlen? Wo lebst Du denn?«, sagte einer im Vorbeigehen. Er schüttelte lachend den kopf: »Wahlen! Wir haben gerade 1:7 verloren, Mann. Hier ging es heute um Wichtigeres als Politik.«

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