Kein Platz für eine Frau
Der schockierende Film »India’s Daughter« dokumentiert Hintergründe des Vergewaltigungsmordes an Jyoti Singh
»Eine Frau hat immer mehr Schuld an ihrer Vergewaltigung als ihr Vergewaltiger.« Es sind Sätze wie dieser, seelenruhig ausgesprochen von einem verurteilten Vergewaltiger und Mörder, die aus dem Dokumentarfilm »India’s Daughter« einen Skandalfall gemacht haben. »India’s Daughter«, gedreht von Leslee Unwin für die BBC, darf in Indien offiziell nicht öffentlich aufgeführt werden - zu explosiv sei das Material, das die Filmemacherin zu diesem Vergewaltigungsfall vom Dezember 2012 zusammentrug, der in Indien für Demonstrationen und Proteste sorgte, zu einer Verschärfung des Strafrechts für Vergewaltiger führte und auch international viel Aufsehen erregte.
»Kein anständiges Mädchen würde abends um neun Uhr noch mit einem Freund auf der Straße sein«, ist der Tenor: Also war Jyoti Singh kein anständiges Mädchen. Also war sie Freiwild - und ihre sechs angetrunkenen, ungebildeten, vom Leben frustrierten Vergewaltiger und Mörder waren im Recht, als sie sie behandelten, wie man solche Mädchen eben behandelt. »Wenn meine Tochter abends um diese Zeit noch mit einem Freund unterwegs wäre, würde ich sie eigenhändig in unser Sommerhaus bringen und dort verbrennen«, sagt einer der Anwälte für die Täterseite. Ein Anwalt. In einem gesellschaftlichen Kontext, der zwischen den Rechten der Frau und denen des Mannes theoretisch nicht mehr viel Unterschied macht, praktisch aber dafür umso mehr.
»Ein Mann und ein Mädchen können nicht einfach nur befreundet sein und zusammen ins Kino gehen. Wenn eine Frau dabei ist, sieht er sofort nur noch Sex.« Sagt der zweite Anwalt für die Täter, den Unwin interviewte. Und lobt im nächsten Satz die indische Gesellschaftsordnung als die beste auf der Welt. Denn darin sei »no place for a woman« - kein Platz für eine Frau. Ein Anwalt, ein studierter Mann, auch dies.
Wie »anständig« das Opfer tatsächlich war, belegen Interviews mit Eltern und Freunden. Sie belegen zugleich auch, wie ungewöhnlich es war, dass diese Tochter verhältnismäßig einfacher, traditionell denkender Eltern Medizin studieren durfte, weil sie lieber eine Ausbildung haben wollte als eine Aussteuer - und die Eltern das einsahen. Jyoti Singh, glaubt man Leslee Unwins Film und den Nachrufen auf die angehende Ärztin, die er enthält, war eine jener jungen Frauen, die diese Mentalität einst nachhaltig geändert hätten. Modern, umsichtig, aufgeschlossen, fließend englischsprachig. Eine, die die sexistischen Unterscheidungen aufgehoben sehen wollte, die in den Köpfen vieler Inder offenbar weiterhin die Frauen mit weitem Abstand zu den Männern in die zweite Reihe stellen.
Und sie war deutlich gebildeter als ihre Peiniger. Eine Frau mit Träumen, mit Selbstbewusstsein und einer Vision für den ländlichen Ort, aus dem ihre Eltern stammten. Ein Krankenhaus wollte sie dort bauen, um die grundlegende medizinische Versorgung sicherzustellen. Eine Frau sei wie eine Blume, sagt einer der beiden Vergewaltiger-Verteidiger in sehr schlechtem Englisch. Sie habe zu duften - und sich immer schön rein und sauber zu halten. Allenfalls 20 Prozent aller Mädchen seien anständig, setzt der reulose Vergewaltiger nach - alle anderen gingen in die Disco, trügen die falsche Kleidung, täten die falschen Dinge, statt sich um den Haushalt zu kümmern. Frauen und Männer sind nicht gleich, behauptet er weiter. Nur dass er sie nicht Frauen nennt und Männer, sondern »boys and girls«, Jungen und Mädchen.
Er macht einen wütend, dieser Film, wütend und hilflos. Halb Indien ging auf die Straße nach dieser Vergewaltigung, die in einem fahrenden Bus stattfand, der eigentlich ein Schulbus war, vom Fahrer für den Abend »ausgeborgt«, der sich als Sammeltaxi ausgab und stattdessen zur tödlichen Falle wurde. Und weil eine mehrfache Vergewaltigung nicht reichte, musste zur weiteren »Bestrafung« der Unanständigen noch eine Eisenstange her. Am Ende warfen die Täter nicht nur ihr halbtotes Opfer (und dessen verprügelten Freund) aus dem Bus, sondern auch ein Kleiderpaket mit den Eingeweiden, die einer von ihnen ihr herausgerissen hatte. Ein Unfall, sagt der verurteilte Vergewaltiger, der nur den Bus gefahren haben will und sonst nicht teilgenommen. Kein Vorfall, keine Vergewaltigung, kein Verbrechen. Ein Unfall. Und die Tote sei doch letztlich selbst schuld - warum habe sie sich auch gewehrt? Hätte sie das nicht getan, wäre sie doch nur in aller Stille vergewaltigt und dann aus dem Bus geworfen worden. Nur.
Kino Babylon, Rosa-Luxemburg-Platz 30, Deutschland-Premiere am 30.6., 19.30 Uhr in Anwesenheit der Regisseurin, Kartentel.: (030) 242 59 69, www.babylonberlin.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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